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Es gibt Bücher, die legt man so lange nicht mehr zur Seite, bis man sie komplett gelesen hat. ARPA Kadabra ist genau so ein Buch. Spannend wie ein Krimi, gespickt mit kuriosen Anekdoten aus der Entstehungszeit des Internets zieht es den historisch interessierten Leser und den Internetnutzer gleichermaßen in seinen Bann wie den Technik-Profi, der endlich wissen möchte, wie TCP, Routing und Backbones entstanden sind.
Katie Hafner – Matthew Lyon, ARPA Kadabra oder Die Anfänge des Internet, (englischer Originaltitel: “Where Wizards Stay up Late – The Origins of the Internet”), 3. Auflage Juni 2008, 351 Seiten, Taschenbuch, ISBN 978-3-89864-551-5, 19,95 Euro (D) / 20,6 Euro (A) / 35 sFr , amazon.de .
Obwohl das 350 Seite umfassende Buch Technikgeschichte pur bietet, ist es durchwegs leicht verdauliche Kost und wird auch von Lesern verstanden, die keine Ausbildung zum Netzwerkadministrator besitzen.
Gleich zu Beginn räumt das von dem miteinander verheirateten Autorenpaar Hafner-Lyon geschriebene Buch mit dem Mythos aus dem Kalten Krieg auf, dass das Arpanet entstanden sei, damit die USA auch nach einem Angriff mit Nuklearwaffen noch über ein funktionierendes Kommunikationssystem verfügen würden. Zwar war eine Abteilung des US-Verteidigungsministeriums (nämlich die ARPA Advanced Research Projects Agency. Deren heute noch existierende Nachfolgebehörde heißt Defense Advanced Research Projects Agency DARPA ) der namengebende Auftraggeber für das Arpanet, doch dessen Entwickler wollten vor allem eines: Endlich eine zuverlässige und leistungsfähige Verbindung zwischen den über die USA verstreuten Großrechnern (gigantische raumfüllende Kästen, die mittels Lochkarten mit Befehlen gefüttert wurden) schaffen, damit die Wissenschaftler miteinander ihre Informationen und Forschungsergebnisse austauschen und gegenseitig die gerade brach liegenden Ressourcen ihrer gigantischen Rechenknechte nutzen konnten.
Bob Tayler, der beim Information Processing Techniques Office (IFPO), einer Abteilung der Arpa, verantwortliche Mitarbeiter wollte zudem das nervige Chaos beseitigen, das ihm die drei Rechner aufzwangen, mit denen er sich vom Pentagon aus verbinden konnte. Für jeden dieser Rechner war nämlich ein anderer Loginzugang und eine andere Vorgehensweise nötig – da lag der Gedanke nahe, endlich eine gemeinsame Kommunikationsbasis für alle diese Rechner zu schaffen und sie miteinander zu vernetzen. Ein gemeinsames PC-Esperanto sollte also Ordnung schaffen im Chaos aus unterschiedlichen Programmiersprachen und Betriebssystemen. Jeder Großrechner brabbelte nämlich seinen eigenen Dialekt und nahm andere Rechner überhaupt nicht zur Kenntnis. Somit wartete auf Bob Taylor eine wahre Sisyphus-Arbeit, deren Bewältigung zu einem der Meilensteine der modernen Technikgeschichte wurde.
Zum geistigen Vater der Kommunikation via Rechner wurde ein Mann, der sich bis dato hauptsächlich mit Psychoakustik befasst hatte: Joseph Carl Robnett Licklider. Kaum hatte man Licklider einen Computer vor die Nase gesetzt, mutierte der Psychologie zum Computerfreak und revolutionierte mit seinen Theorien die noch junge Computerwissenschaft. Und trimmte die ebenfalls noch junge Arpa in die richtige Richtung, indem er eben die IPTO gründete, die die Entwicklung des Arpanets dann tatsächlich verwirklichen sollte. Doch das Internet hat noch mehr Väter: Paul Baran und Donald Watts Davis entwickelten unabhängig voneinander theoretische Modelle, in denen sie über die Ausfallsicherheit eines dezentralen Kommunikationsnetzes (hier lässt dann tatsächlich der Kalte Krieg grüßen) und über die Datenübermittlung in Paketen (dieser heute für TCP/IP selbstverständliche Gedanke war damals keineswegs naheliegend) nachdachten.
Eine bis dahin auf Bau-Akustik und Schallschutz spezialisierte Firma namens “Bolt Beranek und Newman” ( BBN , die übrigens auch die Programmiersprache Logo entwickelte) sollte die Entwickelung des Arpanets stemmen. Ihre eilig zusammengetrommelte Tüftlertruppe aus Hardwarespezialisten, Programmierern, Debuggern und den Vorläufern der heutigen Netzwerkspezialisten (die alle zusammen als “IMP-Guys” bezeichnet wurden) entwickelte dann binnen weniger Monate die zu Grunde liegende Theorie, die Software für die Kommunikation zwischen den IMPs (Interface Message Processor – sozusagen die ersten Router der Welt) und den Hostrechnern und die erforderliche Hardware, indem sie Großrechner zu IMPs umbaute. Sie erstellte zudem die technischen Spezifikationen, nach denen die Programmierer der einzelnen Arpanet-Knoten ihre Host-to-Host-Protokolle entwickeln sollten. Außerdem kümmerte sich BBN nach dem Start des Arpanets um dessen Überwachung und um die Fehleranalyse. Der erste dieser IMPs wurde dann im September 1969 an der University of California, Los Angeles (UCLA) in Betrieb genommen.
Herzstück waren die IMPs (von BBN modifizierte Honeywell DDP-516-Rechner mit der Größe eines Kühlschranks, der 400 Kilogramm auf die Waage brachte – haben Sie schon einmal nachgewogen, wie viel Ihre Fritzbox wiegt?), die miteinander über Telefon-Standleitungen verbunden waren. Jeder IMP verband den oder die Großrechner/Mainframes eines Wissenschaftsstandorts (die zusammen ein IMP-Subnetzwerk bildeten – die Mainframes waren die Hosts) mit dem IMP eines anderen Wissenschaftsstandorts. Die Mainframes (an der UCLA war das beispielsweise ein Sigma-7, beim SRI ein SDS 940) eines solchen IMP-Subnetzwerkes kommunizierten untereinander (via Host-to-Host-Protokoll) und alle zusammen mit dem IMP, der quasi deren Router zum Arpanet war. Die Software der IMPs entwickelte BBN, die Host-to-Host-Protokolle dagegen mussten die Wissenschaftler des jeweiligen Standorts selbst nach den Vorgaben von BBN programmieren. Bei der Entwicklung des Arpanets waren die besten IT-Experten der USA involviert, die besten Universitäten und Wissenschaftsstandorte der Vereinigten Staaten wie das MIT und die Universitäten von Los Angeles und Berkely arbeiteten zwanglos Hand in Hand. Übrigens: Das erste Arpanet hatte ganze vier Knoten, sprich: IMPs. Und als Anschubfinanzierung reichte eine Million Dollar, für die IFPO-Chef Bob Taylor gerade einmal ein 20-Minuten langes Gespräch mit dem Arpa-Leiter führen musste.
Zu den Kuriositäten der frühen Jahre des Arpanets gehört, dass Nachrichten, die die Wissenschaftler untereinander austauschten, den meisten Traffic im Netzwerk verursachte – die E-Mail war geboren. Zu den amüsanten Anekdoten dieser frühen Phase der Internetkommunikation gehört eine Bitte, die Kleinrock, der in Los Angeles führend an der Entwicklung des Arpanets beteiligt war, an Larry Roberts (der den Aufbau des Arpanets koordinierte) übermittelte, als er von einem Kongress in Großbritannien zurück in den USA war: Er habe seinen Rasierapparat vergessen, ob Roberts ihn nicht einpacken und mit in die USA bringen könne? Roberts konnte. Wieder andere Forscher nutzten das vom Pentagon finanzierte Arpanet, um an computergestützten Tanzchoreographien zu forschen. Dabei ging es darum, menschliche Bewegungen durch Computergrafik nachzustellen. Mit militärischer Forschung hatte das alles nicht mehr viel zu tun, obwohl das Verteidigungsministerium das Arpanet komplett finanzierte.
Bei der Lektüre des Buches machte man Bekanntschaft mit vielen Begriffen, die heute zum Kernbestand der Internetkommunikation gehören: TCP/IP, Router und Gateway (die man brauchte, um die ersten eigenständigen Netzwerke miteinander zu verbinden: Arpanet, Satnet und Packet Radio Network), Protokolle, RFC (Request for Comments), Routing-Tabellen, Pakete, FTP, SMTP, Unix, DNS, Topleveldomains, Backbones, Netzwerkknoten, Mail-Header (und der damit verbundene “Krieg”), Adventure (ja, auch Spiele gehören zu den Anfängen des Internets), Finger (nicht das, was Sie an den Händen haben!), Schichtenmodell, Telnet, RFNM/Request for Next Message, Ethernet, Funknetzwerke und so weiter. Gespannt erlebt der Leser, wie aus dem anfangs noch überschaubaren Arpanet der Kern des späteren Internets wurde. Für Leser in Deutschland wird beim Lesen dieses Buches aber auch überdeutlich, dass deutsche Techniker bei der Entwicklung des Vorläufers des Internets nichts zu melden hatten. Deutschland konzentrierte sich damals ganz offensichtlich auf den Bau anderer Kommunikationswege: Nämlich auf den von Autobahnen, auf denen dann auch prompt keine Datenpakete sondern VW Käfer unterwegs waren (einen VW Käfer fuhr damals übrigens auch Larry Roberts).
Und man lernt die Männer (Frauen spielten leider keine Rolle) kennen, die das Internet auf den Weg brachten: Davies und Baran, die das Konzept von Datenpaketen entwickelten, die verschickt und am Zielort wieder zusammengesetzt werden, Licklider, Bob Taylor (wie Licklider ein Experte für Psychoakustik und der IPTO-Leiter, der das Arpanet in Auftrag gab), Larry Roberts (der direkt für die Entwicklung des Arpanets zuständig war), Frank Heart, der für die praktische Umsetzung des IMP-Rechnernetzes verantwortlich war, der Mathematikprofessor Bob Kahn, die Programmierer Dave Walden, Will Crowther und viele andere. Wenn man das Buch gelesen hat, kann man beim Party-Smalltalk seine Zuhörer beeindrucken, wenn man beiläufig erklärt, wieso die Psychoakustik sozusagen die Mutter der Informatik ist und wie das Antikriegssysmbol der amerikanischen Elektro-Ingenieure aussah…
Das Buch ist im Anhang solide belegt und verfügt über eine umfangreiche Literatur- und Linkliste, mit der man tiefer in die Geschichte des Internets eintauchen kann. Die Abbildungen zeigen Geräte wie den DDP 516, einige Skizzen und vor allem die Protagonisten. Code-Beispiele fehlen dagegen (was in erster Linie an der verwendeten Maschinensprache liegen dürfte).
Fazit: ARPA Kadabra ist perfekt gelungene Technikgeschichte, kurzweilig und verständlich erzählt, mit gleichermaßen hohem Unterhaltungs- und Informationswert. Bester Wissenschaftsjournalismus, der mit Hilfe plastischer Beispiele und verständlicher Analogieschlüsse zu Alltagsvorgängen auch komplexe technische Zusammenhänge veranschaulicht. Dieses Buch macht süchtig.
Hans-Christian Dirscherl schreibt seit über 20 Jahren zu fast allen IT-Themen. Sein Fokus liegt auf der Koordination und Produktion von Nachrichten mit hohem Nutzwert sowie auf ausführlichen Tests und Ratgebern für die Bereiche Smart Home, Smart Garden und Automotive.