Seniorenheim am Hackeschen Markt in Mitte wird abgerissen: So geht es den Bewohnern

Das große Bild darf nicht kaputt gehen, es ist wertvoll. Die Berglandschaft in Öl ist ein Erbstück. Es hing schon in der Wohnung von Irma Markerts Eltern. Nun steht das gerahmte Bild in Luftpolsterfolie gehüllt neben den Umzugskartons in Irma Markerts Wohnzimmer. Dort sieht es seit ein paar Tagen längst nicht mehr so aufgeräumt und gemütlich aus, wie es die 92-Jährige gewohnt ist. Die Schrankwand ist ausgeräumt, Gläser und Teller sind eingepackt, Papierstapel liegen auf der Couch. Am Tisch und an den Sesseln kleben grüne Punkte. Ein Zeichen für die Umzugshelfer: diese Möbel müssen mit.

Irma Markert lebt in einer Seniorenresidenz am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte. Es gibt Pflegestationen für Schwerkranke und Bereiche für betreutes Wohnen. Dort wohnt Irma Markert. Sie versorgt sich noch allein und gehört zu den fittesten Bewohnern der Seniorenresidenz.

Einst hatte das Haus 200 Plätze. Jetzt gehört Irma Markert zu den letzten 29 Bewohnern. Das Haus wird abgerissen. Ein Neubau entsteht, mit Wohnungen, Büros und Läden in bester Lage. Für die Senioren ist kein Platz mehr. Irma Markert muss raus.

Seniorenheime gelten als Gewerbeflächen

Baumaschinen stehen im Hof der Seniorenresidenz an der Rosenthaler Straße, Bäume sind gefällt, Edeka und Rossmann im Erdgeschoss des Hauses haben längst geschlossen. Nun sind die Bewohner dran. Für Irma Markert ist das alles sehr aufregend. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Alter noch mal umziehen muss“, sagt sie. Sie hatte sich auf einen ruhigen Feierabend in ihrer Wohnung gefreut. „Ich wäre gern hiergeblieben“, sagt sie. „Ich habe mich hier wohlgefühlt. Und ich war mir immer sicher, das ist die letzte Station in meinem Leben.“ Sie hat sich geirrt.

Manche Bewohner fragen sich jetzt, ob es für sie überhaupt noch einen Platz in der Innenstadt gibt. Es ist eine berechtigte Frage, die längst auch Sozialverbände und Politiker beschäftigt. In Mitte schließen zwei weitere Seniorenheime, eins am Alex und eins in der Invalidenstraße. Aus den einstigen Wohnungen für die Alten werden dann Büros. „Damit lässt sich in guten Lagen eben mehr Geld verdienen als mit Seniorenheimen“, sagt der Baustadtrat von Mitte, Ephraim Gothe.

Der SPD-Politiker muss dem Abriss eines 20 Jahre alten Gebäudes tatenlos zuschauen. Aus baurechtlicher Sicht gebe es keine Handhabe, die betroffenen Senioreneinrichtungen zu schützen, sagt er. Sie unterliegen nicht dem Mietrecht, selbst den Abriss eines Hauses erlaubt das Baugesetzbuch. Seniorenheime gelten als Gewerbeflächen. „Aber was passiert, wenn es künftig in der Berliner Innenstadt immer weniger Heimplätze für Senioren gibt?“, fragt Gothe. Nur eine bundesweite Gesetzesänderung kann die jetzige Rechtslage ändern. Doch selbst wenn Berlin eine Bundesratsinitiative starten würde – „wir bekämen sicherlich wenig Gehör“, sagt Gothe.

Dabei wird die Zahl der Senioren immer größer. In Berlin liegt der Anteil der über 65-Jährigen bei derzeit 19,4 Prozent. In manchen Vierteln von Mitte werden es hingegen immer weniger, aktuell sind es in besonders lukrativen Wohnvierteln nur noch etwa vier Prozent. Die Alten verschwinden.

Abrisspläne seit zwei Jahren bekannt

In der Seniorenresidenz am Hackeschen Markt hören die Bewohner vor zwei Jahren zum ersten Mal vom Abriss. Die Eigentümerin, die Hamburger Immobilienfirma DC Values, stellt Anfang 2016 ihre Pläne für einen Neubau in einer nicht-öffentlichen Sitzung des Bauausschusses in Berlin-Mitte vor. Die Pläne bleiben nicht geheim, die Senioren fangen an, sich zu sorgen. „Wir merkten, da stimmt etwas nicht“, sagt Irma Markert.

Der Betreiber der Einrichtung, der Pflegeheimbetrieb Pro Seniore, beruhigt die Bewohner und versichert, für sie werde sich nichts ändern. „Aufgrund des laufenden Mietvertrags müssen sich unsere Bewohner keine Sorgen machen“, teilte Unternehmenssprecher Peter Müller im Februar 2016 auch der Berliner Zeitung mit. Bis zum Jahr 2023 gelte der Mietvertrag.

Pro Seniore betreibt deutschlandweit 120 Einrichtungen, elf davon in Berlin. Das Gebäude am Hackeschen Markt nutzt das Unternehmen seit der Fertigstellung 1998 als Seniorenresidenz für Pflege und Betreutes Wohnen. In den vergangenen Jahre werden immer weniger freie Plätze vermietet. „Die Gerüchte brodelten weiter“, erzählt Irma Markert, die jetzt zwischen gepackten Umzugskartons sitzt.

Auf dem Tisch liegen Postkarten, Post an die Verwandten mit der neuen Adresse. Es ist Irma Markerts letzter Tag in ihrer Wohnung, in die sie vor sieben Jahre gezogen war.

Damals ist Irma Markert bereits 85 Jahre alt, als sie beschließt, ihr Leben noch einmal komplett zu ändern. Sie lebt in Mölln, doch sie würde gern ihrer Tochter näher sein, die in Berlin wohnt. Irma Markert möchte die Familie mit den drei Enkelkinder öfter sehen.

Wie ein Fremdkörper im schicken Viertel

Sie verkauft ihre Wohnung und das Cabrio, mit dem sie immer noch unterwegs ist. Sie fährt nach Berlin und schaut sich Seniorenheime an. Die meisten sind ihr zu teuer oder sie liegen zu abgelegen. Doch am Hackeschen Markt will sie bleiben, mitten in der Touristenmeile. „Der Trubel dort hat mir gleich gut gefallen“, sagt sie und zieht in eine Zwei-Raum-Wohnung im fünften Stock. Von ihrem Fenster schaut sie auf die Rosenthaler Straße und die Hackeschen Höfe.

Turbulent ist es dort bis spät in die Nacht. Straßenbahnen quietschen, Taxis halten, Touristen drängeln sich auf den schmalen Gehwegen. Wenn es ihr doch mal zu laut wird, nimmt sie die Hörgeräte raus. Das Seniorenheim, umgeben von Boutiquen, Flagship-Stores und Mitte-Hipstern, wirkt wie ein Fremdkörper in diesem schicken Viertel. Irma Markert gewöhnt sich schnell an die Großstadt und das Leben im Seniorenheim.

Supermarkt und Drogerie befinden sich im Erdgeschoss, Apotheke und Sparkasse sind nicht weit weg. Mit dem Rollator schafft sie es zum Alex und an die Spree, ebenso zum Arzt und Wochenmarkt. Manche Wege dauern länger, doch Irma Markert sagt, sie habe genug Zeit. Ihre Tochter lebt in Prenzlauer Berg. Irma Markert kocht für die Enkel, fährt am Wochenende mit aufs Land.

Im Seniorenheim freundet sie sich mit einer Nachbarin an. Eva Endlich ist 84, sie stammt aus Altentreptow in Mecklenburg-Vorpommern. Und auch sie zog nach Berlin, um ihren Kindern näher zu sein. Die Frauen mögen sich und treffen sich nachmittags zum Kartenspielen.

Canasta, Kniffel, Rummikub. Drei Stunden dauern die gemütliche Spielrunden mit Kaffee und Kuchen. Irma Markert sagt, so hätte es bleiben können.

„Maßlos enttäuscht und gleichzeitig sehr wütend“

Ende vergangenen Jahres schließen die Läden im Erdgeschoss. Den Senioren erklärt niemand, was nun geschehen wird. Die Unruhe im Seniorenheim wird größer. Im Februar 2018 schreibt DC Values an die Bewohner, die Auszüge von Edeka und Rossmann seien „die einzigen kurzfristigen Veränderungen“, schließlich habe die Senioreneinrichtung einen langfristigen Mietvertrag.

An einem Montag Ende April werden die Bewohner in den Speisesaal gebeten. Dort erfahren sie, dass sie ihre Wohnungen bis Ende Juni verlassen müssen, das Haus werde abgerissen. Aus Gerüchten ist Gewissheit geworden. „Wir waren geschockt, wütend und frustriert“, sagt Irma Markert.

Ihre Nachbarin Eva Endlich sagt, in dieser schicken Touristengegend sollen die vielen Besucher wohl keine Rollatoren mehr sehen müssen. „Also werden wir jetzt verdrängt.“ Ähnlich reagieren die Mitarbeiter. „Maßlos enttäuscht und gleichzeitig sehr wütend“ seien sie, schreiben sie in einem Brief. „Vielleicht möchte man im hippen Bezirk Mitte keine alten und kranken Menschen sehen? Vielleicht möchte man beim Shoppen nicht mit Krankheit und Tod konfrontiert werden?“

Die Bewohner haben viele Fragen an die Heimleitung. Warum gibt Pro Seniore das komplette Gebäude als Seniorenresidenz auf? Zu welchen Konditionen? Pro Seniore-Sprecher Peter Müller erklärt, man habe einen Kompromiss mit dem Eigentümer gefunden, die Einrichtung bleibe erhalten. Die 29 letzten Bewohner im Haus könnten für die Zeit des Neubaus in Heime von Pro Seniore am Kurfürstendamm ziehen oder nach Spandau. Und sie hätten ein Rückkehrrecht im Neubau. 

Dort wird es 29 altersgerechte Appartements geben, aber keine Pflegestationen mehr. Dafür sei die Gegend um den Hackeschen Markt heute „logistisch nicht mehr gut geeignet“, sagt Müller. Krankentransporte etwa könnten dort schlecht halten. Die 37 Mitarbeiter des Hauses arbeiten in Einrichtungen des Unternehmens weiter. Die Pflegeplätze werden auf andere Häuser in der Stadt verlegt.

Keine Rücksicht auf Pflegebedürftige

Als die Nachricht vom Auszug der Alten bekanntwird, reagieren Sozialverbände und Politiker empört. Frank Bertermann von den Grünen in Mitte sagt, der Investor wolle wohl „auf dem Rücken der Seniorenhausbewohner sein Grundstück vergolden“. Ein 1998 erbautes Haus sei sicherlich nicht abrissreif, meint er.

Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin sagt: „Wir hören leider immer häufiger, dass Gewerberäume oder auch Wohnungen gekündigt werden – um sie zu sanieren, teuer weiterzuvermieten oder zu verkaufen. Wir beobachten, dass es für soziale Einrichtungen zunehmend schwieriger wird, Räume nicht nur in der Innenstadt, sondern in Berlin überhaupt zu mieten.“

André Lossin, Landesgeschäftsführer der Volkssolidarität Berlin fordert, dass Gewerbeeinrichtungen mit öffentlicher Daseinsvorsorge, etwa Seniorenheime, Kitas, Behinderteneinrichtungen, mit einer Schutzklausel mietrechtlich geschützt werden müssen.

Von „Entmenschlichung“ spricht die Vorsitzende des Landesseniorenbeirates, Eveline Lämmer. „Pflegebedürftige verlieren ihr Zuhause, niemand nimmt mehr Rücksicht auf sie.“ Wohnen werde zur Ware.

Wütende Briefe an die Heimleitung

In der Seniorenresidenz bleibt es trotz der Unterstützung von außen ruhig. Niemand protestiert. „Dafür fehlte uns die Kraft, sagt Irma Markert. „Jeder musste sich schnell kümmern, wie es weitergeht.“ Angehörige schreiben wütende Briefe an die Geschäftsführung. Manche suchen jetzt selbst Heime mit freien Plätzen. An den Kudamm will Irma Markert nicht ziehen, die möblierten Zimmer dort seien so steril wie in einem Hotel. Und sie könne auch nicht all ihre vertrauten Gegenstände mitnehmen. Spandau liegt ihr zu weit weg. Am wichtigsten ist ihr, weiterhin mit ihrer befreundeten Nachbarin zusammenbleiben zu können.

Das Gebäude wird noch in diesem Jahr abgerissen. Der Neubau soll bis 2020 fertig sein, darin wird es 45 Mietwohnungen geben, darunter die 29 Senioren-Appartements, sowie zwölf Büros und drei Läden. Die Eigentümer, die Hamburger Immobilienfirma DC Values ist spezialisiert auf „Immobilien in Bestlagen der deutschen Großstädte“. Hauptgesellschafter ist der Familienzweig John Jahr der gleichnamigen Hamburger Unternehmerfamilie. Eine Sprecherin sagt, es entstünden keine Luxuswohnungen und keine Nobelboutiquen. Die Mieten der Wohnungen orientierten sich am Mietspiegel.

Irma Markert hat ihren Mietvertrag am Hackeschen Markt gekündigt. Sie will nicht zurückkehren. Noch einen Umzug würde sie nicht überstehen, sagt sie. Die meisten Bewohner vom Hackeschen Markt haben sich jetzt so entschieden wie sie.

Irma Markert ist in ein neu gebautes Seniorenheim im nördlichen Prenzlauer Berg gezogen. „Es ist ein Neuanfang“, sagt sie. Einige Bewohner vom Hackeschen Markt leben auch dort, zu ihnen gehört Eva Endlich, die Nachbarin. Mit ihr hat sich Irma Markert wieder zum Kartenspielen verabredet. Nachmittags um drei, mit Kaffee und Kuchen. Ein bisschen so wie immer.