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Mixtape-Kult: Spuren des Spaßes

Foto: Moritz Reichelt

Mixtape-Kult Spuren des Spaßes

Lange vor MP3 stellten sich Musikfans ihre Playlists selbst zusammen - auf Mixtapes. Nächtelang überspielten Millionen Jugendliche in den Achtzigern Songs auf Leerkassetten und entwarfen schräge Kassettenhüllen. einestages erinnert an den Kult von damals - und sucht die schönsten Leser-Mixtapes.
Von Moritz Reichelt

Schon als Kind hatte ich ein Tonbandgerät. Mein Vater hatte es irgendwann ausrangiert, und ich zeichnete damit die Hitparade des britischen Armeesenders BFBS auf. Dabei war das Gerät ursprünglich dazu gedacht, komplette Langspielplatten aufzunehmen. Das machte man damals so, schließlich wurden übers Radio neu erschienene Alben in Gänze und ohne Unterbrechung durch Kommentare an die Musikfans der Republik gefunkt - die sich so selbst mit kleinem Geldbeutel ein ordentliches Musikarchiv aufbauen konnten.

Ende der siebziger Jahre stieg ich dann um auf Kassetten. Zunächst benutzte ich sie ebenfalls nur als Archiv von Langspielplatten - auf eine 90-Minuten-Kassette passten genau zwei LPs. Urheberrecht verletzte ich damit nicht, jedenfalls nicht nach damaliger Lesart. Heute wäre ich mir da nicht mehr so sicher. Damals begann eine Debatte über das Copyright von Tonträgern. "Hometaping is killing music" - auf fast allen Plattencovern prangte plötzlich dieses Logo einer Kassette mit gekreuzten Knochen. Aber die Musik sollte noch nicht so schnell sterben.

Eines Tages hatte ich die Idee, mal alle meine Lieblingsstücke auf eine Kassette aufzunehmen. Das Ergebnis überzeugte mich restlos. Ich war fasziniert davon, wie ich Musik ganz verschiedener Herkunft und Stilart kombinieren konnte. Ich fing an, die selbstgemachten Compilations thematisch zu benennen und die Kassetten zusätzlich entsprechend zu gestalten - meist mit bunten Zierklebebändern, dc-fix-Folie und Lackstiften, manchmal habe ich auch Kassetten komplett mit Lack eingesprüht. Das zeitaufwendige Führen von Tracklisten habe ich hingegen bald aufgegeben. Letztlich war der Mix das Entscheidende.

Einmal Gott sein

Jede Mixkassette ist ein kleiner musikalischer Kosmos und du bist ihr Gott - das war das Credo. Dass sich die Musikkassette als Veröffentlichungsmedium neuer musikalischer Produktionen nie durchgesetzt hat, ist dagegen nicht verwunderlich. Als Tonträger war sie der Schallplatte sowohl in der Klangqualität als auch in der Bedienbarkeit meilenweit unterlegen. Wenn die Kassette fertig war, stand die Reihenfolge der Stücke fest und man hat sie genau so angehört. Hin- und herspulen zu bestimmten Stücken war zu umständlich. Doch eben genau dieser Nachteil war die Basis für das Konzept Mix.

Je nach Inhalt konnte man eine Kassette zum Beispiel zum Chillen, beim Essen, beim Schlendern durchs Ghetto, beim Sex oder im Auto hören. Vor allem im Auto. Das Auto wurde geradezu mein Lieblingsort zum Musikhören. Die Dynamik des Fahrens und der Musik passten wunderbar zusammen. Ich liebte solche Momente - etwa wenn ein Stück exakt dann endete, als der Wagen an einer Ampel zum Stehen kam. Oder wenn ich beim Einsetzen einer Up-Tempo-Passage auf der Autobahn so richtig Gas geben konnte. Es war wie Filmmusik, die die eigene Umgebung in ganz großes Kino verwandelte. Mehr als einmal bin ich ein, zwei Autobahnausfahrten weiter gefahren als nötig, nur um die Musik nicht abbrechen zu müssen.

Der britische Maler David Hockney hat mal ein Tape zusammengestellt, das genau auf eine Fahrstrecke durch die Hügel von Hollywood abgestimmt war, um damit Besucher zum Klang der Musik mit dem Auto spazieren zu fahren. Der David-Hockney-Hollywood-Hills-Symphony-Ride sozusagen.

Tapes als Zeitzeugen des eigenen Musikgeschmacks

Seit es den Walkman nicht mehr nur zum Kassettenhören, sondern auch mit integriertem Radio gab, konnte man auf Fernreisen auch die Musik der dortigen Gegend leicht aufzeichnen. Zeug, das man wirklich auf keine andere Weise bekam. Meine Freunde und ich machten von dieser Möglichkeit seit Mitte der achtziger Jahre Gebrauch. Die entstandenen Collagen aus örtlicher Volksmusik, lokal gecoverten Pop-Hits, Werbung und fremdsprachigen Wortbeiträgen haben wir munter getauscht. Tapes aus Lateinamerika, der Karibik, Indonesien, Indien, Japan, Thailand und Afrika zählen zu den stärksten musikalischen Einflüssen, die ich aus dieser Zeit mitgenommen habe.

Meine Tapes habe ich auch in die Ära der CD und MP3 herübergerettet. Sie klingen immer noch ganz ordentlich. Die meisten jedenfalls. Und kürzlich kam mir meine Mixkassettensammlung sehr gelegen. Ich hatte das Auto meines Nachbarn erworben, und da ist lediglich ein Kassettenrekorder drin. Statt das Gerät auszutauschen, habe ich mal wieder meine alten Tapes ausgegraben. Eine wahre Entdeckung: Musik, die ich schon wieder vergessen hatte, Stücke, die ich nur als Tape besitze und eben die Mixe, die als echte Zeitzeugen am besten darüber Auskunft geben, was man tatsächlich mal am liebsten gehört hat.

Die unverwechselbare Reihenfolge der Tracks lässt Erinnerungen plastisch wiederauferstehen. Zum Beispiel, wie ich mit Olaf Kraemers "Rockabilly and Western Drama"-Compilation in einem 1962er Buick Le Sabre durch L.A. fuhr. Ich kann mich noch an die Freeway-Auffahrt erinnern, auf der gerade die Rambling Rangers mit ihrem "Getting Tired" liefen. Dann langsam die Hauptstraße - Southhill oder so - durch Downtown hinunter bis zum Mayan Theater zu "Tobacco Road", John D. Loudermilk. Wir waren zwar schon in den neunziger Jahren, aber es fühlte sich an wie 1960. Und dann kam auch noch "Pistolero" von Roy Orbison, gerade richtig zum Durchqueren des mexikanisch dominierten Abschnitts der Straße. Die Reihenfolge werde ich wohl mit ins Grab nehmen.