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Brasiliens Präsident Lula Die Liebesaffäre ist vorbei

Die Begeisterung für Brasiliens neuen Präsidenten Lula kannte vor anderthalb Jahren keine Grenzen. Nun ist Lula noch immer populärer als alle Vorgänger, doch er verliert zunehmend an Glanz.

Die Einfahrt zum Alvorada-Palast in Brasília, der Residenz des brasilianischen Präsidenten, ist ein unfehlbares Barometer für die Stimmung im Land. "Lula, Lula!" kreischten Touristen früher aufgeregt, wenn der schwarze Chevrolet Omega mit Staatschef Luis Inácio Lula da Silva das Tor passierte. Oft ließ der joviale Lula das Auto anhalten, stieg aus und gab Autogramme, zur Verzweiflung seiner Leibwächter. Der erste Arbeiter im Präsidentenpalast wurde gefeiert wie ein Popstar.

Heute stehen nur die Wachposten gelangweilt vor der Schranke. Die Fenster des Omega sind neuerdings verblendet, damit die Insassen nicht erkannt werden. Touristen kommen kaum noch, das Volk sammelt sich wie früher auf dem riesigen Platz vor Lulas Amtssitz, dem Planalto-Palast - um gegen die Regierung zu protestieren. Indianer aus dem Amazonasgebiet schwenken drohend ihre Lanzen, weil Goldsucher in ihre Reservate eindringen. Landlose kampieren in Barracken aus schwarzen Plastikplanen, um die endlos verschleppte Landreform einzufordern.

Am 1. Mai protestierten Zehntausende Arbeiter gegen den Präsidenten, der aus ihren eigenen Reihen kommt, weil der Arbeiterpräsident den Mindestlohn nur um 20 Real (etwa 6 Euro) auf 260 Real (68 Euro) erhöht hat. Mitte April überschüttete sich ein Arbeitsloser vor dem Regierungspalast mit Benzin und verbrannte sich, weil ihn angeblich der Präsident nicht empfangen wollte.

Eineinhalb Jahre nach Amtsantritt ist die Liebesaffäre der Brasilianer mit ihrem Präsidenten vorbei. Zwar ist er immer noch populärer als alle seine Vorgänger, das Volk stellt ihm bessere Noten aus als seiner Regierung. Doch sein Stern sinkt. Ein "Spektakel des Wachstums" hatte er versprochen, als er an die Macht kam, Millionen Arbeitsplätze wollte er schaffen. Doch im ersten Amtsjahr stagnierte die Wirtschaft, in der ersten Hälfte dieses Jahres legte sie nur um magere 2,7 Prozent zu, die Arbeitslosigkeit stieg auf 13,1 Prozent. Ein Drittel der 176 Millionen Brasilianer lebt weiterhin in Elend, die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich sind so krass wie eh und je, nur in einigen afrikanischen Staaten ist die Kluft noch größer. Und Besserung ist nicht in Sicht: Der Anstieg der Ölpreise und die erwarteten Zinserhöhungen in den USA haben die Aussicht auf einen kräftigen Aufschwung verhagelt.

Sicher, die meisten Probleme sind älter als Lulas Amtszeit. Es sind die ewigen Konflikte eines Schwellenlandes, das mit einem Bein im Silicon Valley steht und mit dem anderen in Afrika: Staatsverschuldung, Korruption, Kriminalität, eine marode Bürokratie und eine in Jahrzehnten verkommene Infrastruktur. Lulas Wähler hatten deshalb viel Nachsehen mit ihrem Präsidenten. Sie murrten nicht, als er den orthodoxen Wirtschaftskurs seines Vorgängers Fernando Henrique Cardoso praktisch unverändert weiterführte: Brasilien steckt in der Schuldenfalle, es ist abhängig von den Launen der weltweiten Finanzmärkte. Sie protestierten kaum, als er Kritiker aus seiner Arbeiterpartei ausschließen ließ, obwohl sie vielen Anhängern aus dem Herzen sprachen. Sie glaubten seinen Versprechen, dass der Take-Off unmittelbar bevorstehe, auch dann noch, als alle Experten bereits warnten, dass der Tanker Brasilien nicht über Nacht zu einem Schnellboot würde, nur weil der Präsident das so wünsche.

Lula regiert aus dem Bauch, so als ob immer noch Wahlkampf wäre. Seine Neigung zum Volkstribun ist unübersehbar: Brasilien ist für ihn eine "große Familie", der Präsident der von Gott beschützte Landesvater, der sich um alles persönlich kümmert. Wie die meisten lateinamerikanischen Staatschefs ist auch Lula der Verführung des Präsidentialismus erlegen: Er präsentiert sich als Retter des Vaterlandes, doch der Kaiser ist nackt. Er versprach neue Straßen, obwohl der zuständige Minister kein Geld hat. Er legte ein Riesenprogramm zur Bekämpfung des Hungers auf, das sich nach wenigen Monaten als millionenteurer Flop erwies. Er verkündet die Rettung des Amazonasurwalds, obwohl soviele Bäume abgeholzt werden wie nie zuvor.

Jetzt ist der Lack ab. Mehrere Korruptionsskandale und Postenschacher haben den Nimbus der Arbeiterpartei PT als Bastion des besseren Brasilien erschüttert. Um die Regierungsmehrheit im Kongress zu sichern, ist der Regierung fast jede Allianz recht. Senatspräsident José Sarney, der auch schon mal Staatsoberhaupt war und damals von der PT als Repräsentant der Oligarchie verhöhnt wurde, ist plötzlich Lulas bester Freund. Wie noch jeder demokratisch gewählte brasilianische Präsident, muß auch Lula sich in die Niederungen des politischen Kuhhandels begeben: Bei jeder Abstimmung muß sich die Regierung ihre Mehrheit neu zusammensuchen, denn es gibt keinen Fraktionszwang.

Brasiliens Präsidenten haben genaugenommen nur ein Jahr Zeit, um ihre politischen Reformen auf den Weg zu bringen: Das erste Jahr im Amt brauchen sie, um die schwerfällige Staatsmaschine auf Touren zu bringen, im zweiten können sie regieren, im dritten beginnt schon wieder der Wahlkampf. Lula steht die erste Bewährungsprobe schon bei den Kommunalwahlen im Oktober bevor: Erste Umfragen deuten darauf hin, dass Sao Paulo, die wichtigste Bastion der PT, in die Hände der Opposition fallen könnte.

Brasiliens Industriemetropole, die größte Stadt Südamerikas, ist Lulas politische Heimat, sie ist die Wiege der Gewerkschaftsbewegung und der Resonanzboden für alle politischen Entwicklungen im Land. Hier hat er seinen Aufstieg vom Dreher zum Staatschef begonnen, hier hat er nach dem Wahlsieg 2002 die größte Party gefeiert. Jetzt könnte ausgerechnet Sao Paulo zum Schauplatz seines politischen Niedergangs werden.