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Tim Cook über seine Vision für die Zukunft von Apple

Als CEO von Apple hat er seinen Skeptikern getrotzt und das kreativste Unternehmen der Welt nach seinen eigenen anspruchsvollen Vorstellungen umgestaltet. Jetzt gibt er in einem offenen Gespräch neue Einblicke in seine Führungsrolle. Tim Cook erklärt, warum er sich als Außenseiter sieht, wie er die Werte von Apple durchsetzt und was er tut, um nicht den ganzen Tag auf sein iPhone zu starren.
Tim Cook

Tim Cook ist der Cover-Star der allerersten GQ Creativity Awards Issue

I. Es ist kurz vor 9 Uhr morgens im Apple Park. Tim Cook ist schon eine Weile auf den Beinen und widmet sich den morgendlichen Ritualen eines modernen CEOs: E-Mails und Sport. Es ist ihm wichtig, sich nicht hinter seiner E-Mail-Adresse zu verstecken, die man mit jeder Suchmaschine problemlos herausfinden kann. Tatsächlich findet er die Lawine an unaufgeforderten E-Mails hilfreich. Er steht gegen 5 Uhr auf und liest sie alle. Kunden erzählen ihm, was sie von Produkten von Apple halten. Auch die ein oder andere Lebensgeschichte ist dabei. Für ihn ist es Inspiration. Wer für Cook arbeitet, wird zwangsläufig eines Tages eine dieser Geschichten weitergeleitet bekommen.

Und dann, oft noch vor Sonnenaufgang, kommt jemand und zwingt ihn, „Dinge zu tun, die ich lieber nicht tun oder für die ich Ausreden finden würde.“ (Krafttraining, hauptsächlich.) Danach kommt er hierher, in den Hauptsitz des Unternehmens, das er seit 2011 führt.

Der ruhige Visionär aus dem Silicon Valley

Cook ist kein CEO, der sich von Krisen oder Konflikten angezogen fühlt, zwei Ressorts, in denen sich sein Vorgänger Steve Jobs manchmal anscheinend wohlgefühlt hatte. „Ich bemühe mich, Dringendes nicht den Tag dominieren zu lassen“, so Cook. Das heißt: kontinuierliche Updates, regelmäßige Meetings mit verschiedenen Unternehmensbereichen. Er stellt gerne Fragen. „Ich bin neugierig. Mich interessiert, wie Dinge funktionieren“, sagt er. Er will niemanden einschüchtern, auch wenn vielleicht ein gewisser Standard, eine Erwartungshaltung mitschwingt: „Vielen fällt es schwer, eher simple Dinge gut zu erklären.“ Wie auch Jobs früher hält Cook seine Meetings manchmal bei Spaziergängen über den Campus von Apple ab. Meistens verlässt er das Büro gegen 18:30 oder 19:00 Uhr. Im Großen und Ganzen möchte er ein Gefühl der Normalität vermitteln, der Verhältnismäßigkeit. Und das trotz der Tatsache, dass Apple mit seinen rund 165.000 Angestellten an den meisten Tagen das wertvollste Unternehmen der Welt ist. (Mehr als zwei Billionen US-Dollar ist Apple bei Entstehung dieses Artikels wert. Im letzten Jahr waren es auch schon mal drei Billionen, etwa so viel wie das BIP des Vereinigten Königreichs.)

Apple Produkte prägten die Gesellschaft

Man könnte sagen, dass Apples Erfindungen – erst der Apple I 1976, dann der Apple II 1977, gefolgt vom iMac, dem iPod, dem iPhone, dem iPad, der Apple Watch und den AirPods – mehr zu unserem Alltag beigetragen haben, als die Produkte jeder anderen Firma in den vergangenen 50 Jahren. Für diese Erfolge wird Jobs, der Apple mitgegründet hat und bei der Entwicklung der Kultprodukte federführend war, wie ein Gott verehrt; und Jonathan Ive, Apples früherer Designchef, wie ein Halbgott. Doch es ist Cook, der das Unternehmen seit Jobs’ Tod im Jahr 2011 leitet. Cook, der dem Unternehmen vorstand, als der Börsenwert astronomische Gewinne verzeichnete. Cook, der Apples Zukunft jetzt gestaltet. Er muss das schützen, was Apple schon geschaffen hat, und gleichzeitig dem Next Big Thing des Unternehmens vorstehen. In letzter Zeit häufen sich die Gerüchte, dass es sich dabei um ein Headset mit VR- und AR-Fähigkeiten handeln könnte. Und dass es möglicherweise Reality Pro heißen könnte. Den Gerüchten zufolge steht der Launch dieses Headsets unmittelbar bevor. (Zur Klarstellung: Weder bestätigt noch dementiert Cook die Existenz eines solchen Produkts gegenüber Journalisten, aber er ist gerne dazu bereit, über das…Potenzial…zu sprechen.) Doch trotz all der Biografien und Hagiographien, die seit der Gründung Apples entstanden sind, ist Cook noch immer ein Enigma. „Er ist schwer zu durchschauen“, sagt Eddy Cue, der seit 1989 bei Apple arbeitet und inzwischen für den Services-Bereich zuständig ist. „Wenn Sie Entscheidungen oder Annahmen basierend auf seiner Mimik treffen, werden Sie nicht sehr erfolgreich sein. Ich sage ihm immer, dass er ein großartiger Pokerspieler wäre, weil er fünf Asse haben könnte, ohne dass es jemand ahnen würde.“

Ihm ist das recht. In einer Zeit, in der Tech-Gründer im Internet geradezu zwanghaft täglich über die Zukunft der Menschheit schwadronieren, findet man Cook eigentlich wenig online. Er überstürzt die Dinge nicht, um sie dabei kaputtzumachen. Seine ruhige Art ist eine implizite Zurechtweisung der Chaos-Agenten – Elon Musk, Mark Zuckerberg und wie sie alle heißen – die neben Cook regelmäßig vor dem US-Kongress zur zunehmend ungewissen Lage der Tech-Branche in den USA aussagen müssen. Im Silicon-Valley-Club, wo es manchmal scheint, als würden alle nur darum kämpfen, als Erste in das risikokapitalbetriebene Raumschiff zu dürfen, das die Elite im Patagonia-Look ins All befördert, scheint Cook für den Rest von uns Partei zu ergreifen.

Tim Cook als stiller Außenseiter

Manchmal kommt im Gespräch das Kind aus Robertsdale, Alabama, hervor: ein wenig überrascht darüber, nun der vielleicht mächtigste Geschäftsmann der Welt zu sein; wohlhabend und einflussreicher als die meisten tatsächlichen Präsidenten. Er wird mit mir darüber sprechen, wie es war, Jobs’ Nachfolge anzutreten, und er wird seine eigenen kreativen Erfolge verteidigen. Er wird erzählen, wie er mit seiner Konkurrenz im Silicon Valley und darüber hinaus umgeht, und mir beibringen, wie ich meine Gehirnzellen und die meines Kindes vor meinem Handy schützen kann. Und er wird offen über die Zukunft Apples und die vielleicht anstehenden Innovationen sprechen.

Trotz der erreichten Spitzenposition bleibt seine Selbstwahrnehmung die eines Außenseiters: „Ich wurde nie als normal beschrieben“, sagt er. Er ist als schwuler Mann in den ländlichen Südstaaten der USA aufgewachsen und hat aus seinem Behagen mit dem Unbehagen eine Superpower gemacht. „Ich hasse das Wort normal aus vielerlei Gründen, weil es Menschen gibt, die normal mit heterosexuell gleichsetzen. Man hat schon viele Beschreibungen für mich gefunden, normal war wohl noch nie darunter.“

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II. Apple Park ist ein Ort, der aussieht, als käme er aus dem Nichts, obwohl er unmöglich aus dem Nichts entstanden sein kann. Das Gebäude selbst ist ein gläserner Ring mit vier oberirdischen und drei unterirdischen Geschossen, die sich über rund anderthalb Kilometer erstrecken. Der Bau ähnelt einem Raumschiff, das sich netterweise auf die Erde bequemt hat, ohne die Landschaft zu zerstören. In der Mitte des „unendlichen“ Gebäudes befindet sich ein Innenhof mit Obstbäumen, die im Winter zwar kahl sind, und dennoch: Obstbäume! Unzählige Pflaumen- und Apfelbäume. Von den Tausenden Eichen ganz zu schweigen. Die Wege winden sich und führen auf und ab. In der Ferne lassen sich die Hügel Kaliforniens ausmachen. Außerhalb des Rings befinden sich Basketballplätze, Fußballplätze, Volleyballplätze, ein Fitnesscenter und frei verfügbare Fahrräder. Bei schönem Wetter können einige der Außenwände komplett geöffnet werden. Der Campus wird vollständig von erneuerbaren Energien betrieben, von Solaranlagen und Biogas-Brennstoffzellen. Der Bau hat etwa fünf Milliarden US-Dollar gekostet und trägt die Handschrift aller Apple-Heiligen: Jobs natürlich, der vor seinem Tod die groben Pläne konzipiert hat; Ive, der Jobs’ Vision mit seinem Team bei Apple und dem Architekturbüro Foster + Partners umgesetzt hat, und Cook selbst, der zum Zeitpunkt der Fertigstellung schon das Unternehmen führte.

Apple Park ist auffällig unauffällig: ein Denkmal an eine Firma, die vorgibt, Denkmälern skeptisch gegenüberzustehen. Ganz Apple, sollte der Komplex nicht nur schön und zugleich nützlich sein, sondern auch anders – also besser – als alles, was für den gleichen Zweck zuvor entworfen wurde. „Meiner Meinung nach unterschätzen wir, welchen Einfluss Gebäude auf die Menschen haben, die darin arbeiten“, so Cook, und verweist auf das Café im zweiten Stock, in dem wir gerade sitzen. „Zu oft sieht man diese rechteckigen Blöcke“ – man hört die Verachtung in seiner Stimme. „Das kann sich doch jeder ziemlich einfach ausdenken. Man muss tiefer gehen, um etwas zu entwerfen, das kollaboratives Arbeiten, Offenheit und Ruhe fördert.“

Cooks silbergraues Haar ist kurz geschnitten. Er trägt ein dunkles, langärmliges Polohemd und eine schmal geschnittene, anonyme Jeans; das gleiche Outfit, das er auch bei den meisten öffentlichen Apple-Auftritten trägt. An seinem Handgelenk sehe ich eine Apple Watch, aber ich sehe nie, dass er einen Blick darauf wirft oder den Blickkontakt mit mir im Laufe unseres gesamten Gesprächs sonst irgendwie verliert. Cook spricht seine Gesprächspartner und -partnerinnen mit Vornamen an. Wenn er einen öffentlichen Raum auf dem Campus betritt, ergreift niemand die Flucht. Vielleicht nimmt die Zahl der Anwesenden etwas ab, aber das war’s. Als ich Cook darauf anspreche, ist er überrascht, dass ich überrascht bin. „Ich glaube, die meisten Leute haben kein Problem damit, mich anzusprechen“, sagt er. Er wählt seine Worte bei öffentlichen Auftritten und in Interviews mit Bedacht; nur selten hört man ihn seine Stimme heben.

Er hat sich im Laufe der Zeit mehr mit den öffentlichkeitszugewandten Aspekten seines Jobs angefreundet. Angesichts der Größe und des Einflusses von Apple sind das viele – eine weitere Hinterlassenschaft von Jobs, der jedes neue Apple-Produkt höchstpersönlich auf verschiedenen Bühnen vorgestellt hat. „Ich musste da eindeutig hineinwachsen“, sagt Cook. „Als ich den CEO-Job übernahm, insbesondere nach seinem Tod, dachte ich noch, dass die Öffentlichkeit nur wegen Steve auf Apple schaute. Ich dachte, dass die Fixierung und das alles verschwinden würde, aber das ist nicht passiert.“

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Apple mit Tim Cook als CEO

Es ist jetzt nicht mehr so präsent, doch als Cook die Nachfolge von Jobs antrat, wurde viel über Unterschiede zwischen den beiden Männern gesprochen. Cook war damals schon seit 13 Jahren bei Apple, aber für das operative Geschäft zuständig. Sein alleiniger Fokus lag auf Lieferketten, Fabrikmanagement, Materialbeschaffung und jeder erdenklichen Effizienzsteigerung in Apples Innovationssystem. Er war nicht dafür bekannt, sich in dem Raum zu befinden, in dem diese Innovationen konzipiert wurden. Jobs nahm in seinen späteren Apple-Jahren aus gesundheitlichen Gründen mehrere offizielle Auszeiten und überließ Cook jedes Mal die Verantwortung. Für viele blieb Cook ein Systemexperte, ein operativer Taktiker, ein Erwachsener, dem man es zutraute, den Laden am Laufen zu halten, bis Jobs zurückkommen würde. Doch Jobs kam nicht zurück und man bat Cook, ihn zu ersetzen. Wenn Steve Jobs Walt Disney oder Thomas Edison war, wer war dann Tim Cook? Noch heute wird Cook von Leuten, die Product-Guys vergöttern – der Großteil der Apple-Kundschaft – manchmal als „nicht so der Product-Guy“ bezeichnet. (Zum Beispiel lautet der Titel eines neuen Buches von Tripp Mickle, Technologie-Reporter bei der „New York Times“, in dem es um das Unternehmen nach Jobs und um Cooks Zeit an der Spitze geht: After Steve: How Apple Became a Trillion-Dollar Company and Lost Its Soul.)

Cook hat Übung darin, diese Fragen zu beantworten. Fragen zu Jobs, zu den Unterschieden zwischen ihnen und zu seiner Nachfolge. „Zu Beginn der Zeit ohne Steve“, erzählt er, „sechs Wochen, nachdem ich CEO wurde, war ich am Boden zerstört. Ich fühlte mich völlig leer.“ Ihm sei jedoch sehr schnell klargeworden, sagt er, dass er „nicht Steve sein konnte. Ich glaube, niemand kann Steve sein. So jemanden wie ihn gibt es in jedem Jahrhundert nur einmal. Er war ein Original, in jeder Hinsicht. Ich konnte nur die beste Version von mir selbst sein.“

Doch was für eine Version würde das sein? Auf mein Nachhaken widerspricht Cook höflich aber bestimmt dem Bild, das einige von ihm haben: ein Tabellenmensch, ein Anzugträger, der ein Unternehmen leitet, das von einem Anzugverächter aufgebaut wurde. „Steve hat das gesehen. Eines der Dinge, die ich so an ihm geschätzt habe, war, dass er nicht erwartet hat, dass nur eine Gruppe im Unternehmen alle Innovation oder Kreativität zu Tage bringt“, sagt Cook. „Er hat es von allen im Unternehmen erwartet.“ Auch im operativen Bereich, in dem Cook tätig war. „Wir haben auch im operativen Geschäft immer versucht, innovativ und kreativ zu sein, so wie wir auch sonst überall kreativ waren. Wir mussten es sein, um die Produkte herzustellen, die wir im Kopf hatten.“

Selbst nachdem Cook das Apple-Geschäft umgestaltet und das Unternehmen zu einem Koloss gemacht hatte, der noch furchterregender ist als unter Jobs, widerstrebt es ihm, eine Liste seiner eigenen kreativen Erfolge vorzulegen. Darauf steht nicht nur ein Jahrzehnt an Optimierungen am iPhone und dem Rest der Apple-Produktfamilie, sondern auch die Apple Watch – von Ive designt und unter Cook als CEO gelauncht – sowie die AirPods, ein Must-have in pandemischen Zeiten und danach. „Wir beschäftigen uns nicht so viel mit der Vergangenheit“, erklärt Cook. „Unser Fokus liegt immer auf der Zukunft. Wir wollen immer an der Startlinie stehen, wo wir träumen und große Ideen haben können, die nicht von der Vergangenheit zurückgehalten werden.“

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Die Zukunft von Apple?

Und die Zukunft ist…kompliziert. Apple beherrscht aktuell den Markt. Das Unternehmen ist nicht nur relativ unbeschadet aus der Pandemie gekommen, sondern finanziell besser aufgestellt denn je. Doch Apple steht auch an einem Scheideweg: Immer kurz vor einer neuen Erfindung, die unser Leben wieder verändern wird, und gleichzeitig damit beschäftigt, die stetigen Herausforderungen des bestehenden Geschäfts zu meistern. Cook hat als CEO dazu beigetragen, das Unternehmen in Richtung Onlinedienste, wie Apple TV+, zu lenken, was neue Einnahmequellen, aber auch neue Konkurrenz hervorgebracht hat. Aufsichtsbehörden in den USA und weltweit beäugen den App Store aufs Kritischste. Und gleichzeitig wartet da eine Zukunft mit gigantischen Möglichkeiten – selbstfahrende Autos, VR, AR; eine Innovation folgt auf die nächste. Die Konkurrenz, zum Teil nur wenige Kilometer vom Apple Park entfernt, wetteifert darum, das Ziel noch vor Apple zu erreichen. Um all dies zu managen, braucht es Innovationskraft, die üblicherweise nicht mit Cooks operativer Erfahrung assoziiert wird.

Doch er ist gut darin, Kritik an seinen kreativen Fähigkeiten an sich abprallen zu lassen. „Bei meinem Lebenslauf bin ich Kritik gewohnt. Ich bemühe mich sehr, Dinge nicht persönlich zu nehmen, die vermutlich nicht persönlich gemeint sind. Sonst könnte ich gar nicht funktionieren.“ Dennoch scheint er sich an gewisse kritische Äußerungen bestens erinnern zu können: Er weiß noch genau, was beim Launch der Apple Watch oder des iPhones über die Produkte gesagt wurde. „Die Uhr ist immer noch ein Riesenerfolg, aber wenn man sich die Presse von damals ansieht, würde man das nicht denken“, sagt er. „Dito das iPhone. Als es erschien, hieß es: ‚Das funktioniert nie. Es hat keine physische Tastatur. Alle wollen eine physische Tastatur.‘“ Und so weiter. Cooks ruhige Art kann zuweilen eine Person verbergen, die eigentlich auch anders kann. „Seine Art kann täuschen, weil er anders ist, als es Politiker meistens sind“, so Lisa Jackson, Ex-Chefin der US-Umweltschutzbehörde EPA und heute Vice President Environment, Policy and Social Initiatives bei Apple. „Er ist nicht laut. Er will nicht den ganzen Raum einnehmen. Aber seine Führungsrolle wird nie infrage gestellt.“

Tim Cooks Liebe zur Natur

Mit der Zeit hat er Strategien zum Abschalten entwickelt – und um Dinge nicht an sich heranzulassen. Man muss sich nur umschauen. Wir sitzen drinnen in einem Café, aber Cook sagt, dass ihm all das Glas das Gefühl gäbe, im Freien zu sein. „Wenn ich hier bin, denke ich immer ans Wandern und andere Dinge, die eine beruhigende Wirkung auf mich haben“, sagt er. Nach seinem Wegzug aus Alabama lebte er für einige Zeit in North Carolina und später in Colorado, wo er die Natur lieben lernte. „Die Natur war dort einfach immer zugänglich, von vereinzelten Schneestürmen einmal abgesehen“, erzählt er. Als wir später durch den Innenhof schlendern, bei dessen Gestaltung darauf geachtet wurde, die Schönheit des Valleys vor dem Einzug der Tech-Firmen nachzuempfinden, fährt er fort: „Ich hatte gerade das Radfahren und Wandern für mich entdeckt, als ich nach Kalifornien zog. Hier kann man an so vielen Orten wandern gehen. Es wäre eine Sünde, die Natur hier nicht zu nutzen und zu genießen. In der Natur „kann ich den Kopf frei bekommen." Wobei, eigentlich sei es mehr als das, fügt er hinzu, und vergisst für einen Moment seine sonst so bemessene Art: „Es ist besser als alles andere, was man tun könnte!“

2019 stellte Tim Cook Apple TV+ vor.

Michael Short/Getty Images

III. Es ist eine bemerkenswerte Geschichte. So bemerkenswert, dass ein junger Tim Cook sie einem nicht geglaubt hätte. Er wurde 1960 in Mobile, Alabama, geboren und wuchs in Robertsdale auf, wo sein Vater in einer Schiffswerft arbeitete. Robertsdale war weit entfernt von allem. Sein jetziges Leben, seine Position – „meine Vorstellungskraft war nicht groß genug, um überhaupt davon zu träumen“, so Cook. Robertsdale lieferte die Vorlage dafür, wie sich Cook heute noch wahrzunehmen scheint: fundamental anders. „In meiner Kindheit und Jugend gab es kein Internet. Es war schwierig, Menschen zu finden, die so waren wie ich.“

Er studierte Industrial Engineering in Auburn und wurde Fan des Football-Teams und der Rolling Stones. Sein erster Job war bei IBM, wo er die Lieferkette revolutionierte, wie danach bei Compaq und schließlich bei Apple. Er beschaffte Material aus der ganzen Welt und verkürzte die Zeit, die jedes Unternehmen in der Lieferkette auf den Fertigungsteilen saß, bevor sie zu Computern zusammengebaut wurden.

Das Bild, das aus dieser Zeit entsteht, ist das eines mönchartigen Mannes, der noch lange, nachdem er zu Geld kam, an Weihnachten arbeitete, einen Honda Accord fuhr und in einer kleinen Zweizimmerwohnung wohnte. Die Geschichte seiner Einstellung bei Apple ist schon unzählige Male erzählt worden, häufig von Cook selbst. Es war 1997 und Cook war gerade erst Vice President, Corporate Materials, bei Compaq geworden, als er zu einem Treffen mit Steve Jobs eingeladen wurde, der nach Jahren in anderen Firmen kürzlich wieder zu Apple zurückgekehrt war. „Apple ging es damals extrem schlecht. Die Firma stand kurz vor dem Konkurs“, erzählt Cook. „Michael Dell meinte damals, wenn er Chef von Apple wäre, würde er das Unternehmen dichtmachen und das restliche Geld unter den Anteilseignern verteilen. Er sprach nur aus, was alle dachten.“ Trotzdem traf sich Cook mit Jobs, hauptsächlich aus Neugier, und „schon nach wenigen Minuten wusste ich: Ich will das machen.“

Cook erklärt, dass er sich irgendwie dazu verpflichtet sah, für ein kreatives Genie zu arbeiten, nachdem er realisiert hatte, dass er solch einem gegenüber saß. „Ich hatte bis dahin überwiegend Manschettenknopf-CEOs getroffen, die sich weit von der normalen Bevölkerung und den Produkten ihrer Firmen entfernt hatten“, so Cook. „Und hier war dieser Mann, der so begeistert von seinem Produkt sprach.“ Als ich Cook frage, warum es für ihn attraktiv war, für ein kreatives Genie zu arbeiten, sagt er etwas, auf das er im Laufe unseres Gesprächs noch häufiger zurückkommen wird. Nämlich, dass Jobs die erste Person war, die „wirklich die Welt verändern wollte“, sagt er. „Da war nicht dieses typische Silicon-Valley-Gesäusel. Dieser Mann wollte wirklich etwas verändern. Das hatte ich noch bei keinem anderen CEO gesehen.“

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Tim Cooks Führungsstil bei Apple

Inzwischen ist es für Tech-Leader obligatorisch, unaufhörlich von Weltveränderung zu sprechen, selbst wenn ihre Firmen die banalsten Dinge wie reduzierte Matratzen verkaufen. Dass eine Computerfirma dies tatsächlich tun könnte, war 1998 noch ein ziemlich radikaler Gedanke. Cook aber war davon überzeugt. Es war die Zeit der ersten bonbonfarbenen iMacs. Cooks Job sollte es sein, dieses ambitionierte Ziel in praktischer Hinsicht zu ermöglichen. Apples Produkte sollten auf schnellere und effektivere Weise verfügbar gemacht werden, damit Michael Dell nicht noch einmal sagen würde, man sollte Apple doch besser verramschen. Innerhalb von nur zwei Jahren hatte Cook Apples Bestandsreichweite von einem Monat auf zwei Tage reduziert. Sein Aufstieg an die Spitze hatte begonnen.

All das geschah auf beeindruckend gelassene und konfliktfreie Weise. Selbst die Geschichten, die er und andere Menschen mir aus dieser Zeit erzählen, zeichnen sich durch eine gewisse Unaufgeregtheit aus. Ein Beispiel: Eines Tages wird Cook in seinem Büro von einem Mitarbeiter, Sabih Khan, über ein dringliches operatives Problem in China informiert. Eine halbe Stunde später blickt Cook auf und sieht, dass Khan immer noch im Raum ist. Warum er noch da sei, fragt er ihn. Khan fährt zum Flughafen, fliegt nach China und löst das Problem.

Während wir einen Teich umrunden, frage ich Cook, was die Geschichte aussagen soll. Je öfter ich sie lesen würde, sage ich, desto weniger würde ich sie verstehen.

„Ich… ich weiß es nicht. Es war einfach nur so eine Situation“, antwortet er. „Vielleicht fanden andere es gemein, dass ich das Problem nicht selbst gelöst habe.“ Er lacht. „Aber so hat es sich für mich nicht angefühlt. Für ihn auch nicht, glaube ich. Er ist immer noch hier. Er leitet das gesamte operative Geschäft.“

Andere CEOs würden diese Anekdote für sich nutzen, sie ausschmücken und sie vielleicht um eine Lektion ergänzen: In der Geschäftswelt muss man alle erforderlichen Mittel nutzen, um ans Ziel zu kommen. Aber hier ist ein Funfact über Cook: Es ist ihm wirklich egal, was andere über ihn denken. „Ich glaube, das kann andere etwas irritieren. Wenn sie keine Emotionen sehen, denken sie, dass da nichts ist. Vielleicht verstehen sie es nicht oder sie denken, dass er einfach nicht so emotional ist“, so Cue. „Das entspricht aber definitiv nicht der Wahrheit.“ Wenn es nach Cook geht, sollen wir denken, was wir wollen. Sogar, dass er gemein ist, auch wenn er sich ziemlich sicher ist, dass er das nicht ist. (Eine andere Sache gibt Cue bereitwillig über Cook preis: „Man muss selber den ersten Schritt machen. Wenn Sie Tim noch nie getroffen haben und auf einen Anruf von ihm warten, können Sie lange warten.“)

Cooks generelles Desinteresse an dem, was andere Menschen über ihn erzählen, hat ihn nicht nur außergewöhnlich kritikresistent gemacht. Gelegentlich hilft es ihm auch, sich an egal wen zu wenden, um seinen Job zu machen. „Ich halte ihn für unglaublich menschlich“, sagt Jackson. „Aber er weiß auch, dass das nicht immer nötig ist.“ Ich spreche Cook auf einige wohlbekannte Situationen an: Seinen Kontakt zu Ex-Präsident Donald Trump, der Cook als großartigen CEO beschrieb, „weil er mich anruft, was andere nicht tun“, und aktueller, seinen geschickten Umgang mit Elon Musk, der Apple im vergangenen Jahr auf Twitter kritisierte und noch in derselben Woche mit Cook über den Campus spazierte. Cook wiederholt noch einmal, dass es ihm nichts ausmache, sich dort zu befinden, wo andere vielleicht nicht so gerne gesehen werden. „Meine Philosophie ist Engagement“, sagt Cook. „Mir ist der Dialog mit anderen wirklich wichtig, egal, ob wir einer Meinung sind oder nicht. Aber gerade bei Unstimmigkeiten halte ich den Dialog für wichtig.“

Cook lächelt. „Ich bin es gewohnt, in einem Raum mit Menschen zu sein, die anderer Meinung sind als ich. Das ist nichts Neues für mich.“

Das Streaming-Entertainment ist nur eines der neuen Geschäftsfelder, die Cook für Apple erschlossen hat seit er Steve Jobs als CEO ablöste.

Monica M Davey/EPA/Shutterstock

IV. Die wenigen Male, die Cook freiwillig etwas über sich preisgegeben hat, geschah das widerwillig und meist nur, weil er der Meinung war, dass die Alternative echten Schaden angerichtet hätte. Im Jahr 2014 äußerte er sich in „Bloomberg Businessweek“ zu seiner Sexualität, über die bereits lange, wenn auch leise, spekuliert worden war. Es war eine untypische Entscheidung für einen so verschlossenen Mann, der nicht einmal gerne über seine aktuellen TV-Favoriten spricht. Aber: „Ich erhielt all diese Nachrichten von Kindern, die irgendwo im Internet gelesen hatten, dass ich schwul sei“, erzählt er. „Sie wussten nicht mehr weiter. Ihre Familien wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Sie wurden quasi aus dem Leben geschrieben. Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen. Sie sollten sehen, dass das Leben weitergeht. Deshalb bin ich diesen Kompromiss mit meiner Privatsphäre eingegangen.“

Mir ist nur eine echte Ausnahme von Cooks grundsätzlicher Vorsicht aufgefallen. Und das bei einem Thema, das man wohl allgemein als Übel der Technologie bezeichnen könnte. Es ist ein ungewöhnlicher Streitpunkt für einen Apple-Chef, doch er beschäftigt Cook schon seit vielen Jahren. Bei einer Rede zur Abschlussfeier in Stanford, im Herzen des Silicon Valley, fand er 2019 vor einem Meer von ambitionierten jungen Menschen, den CEOs und den Steve Jobs’ von morgen, die folgenden Worte: „In einer Zeit des Zynismus glaubt man an diesem Ort noch daran, dass die Fähigkeit des Menschen, Probleme zu lösen, grenzenlos ist. Doch ebenso grenzenlos scheint unser Potenzial zu sein, diese zu schaffen.“

Die Wichtigkeit der Privatsphäre

In seiner Zeit als CEO hat Cook kaum eine Gelegenheit ausgelassen, oft lautstark den, wie er es nennt, „Daten-Industrie-Komplex“ zu kritisieren, der von Firmen aufgebaut wurde, die von der Nutzung und dem Verkauf der persönlichen Daten ihrer Konsumenten profitieren. Diese Praxis, so hatte Cook bei einem anderen Auftritt erklärt, „degradiert unser fundamentales Recht auf Privatsphäre, und als Konsequenz unser Sozialgefüge“. Sie trage zum Aufbau eines Ökosystems bei, das „die wildesten Fehlinformationen und Verschwörungstheorien enthält, die von Algorithmen angeheizt werden.“

Fragt man Cook, bekanntermaßen selbst sehr auf seine Privatsphäre bedacht, warum ihm dieses Thema so wichtig ist, lenkt er das Gespräch auf Apple zurück. „Für Apple ist es eine persönliche Sache, weil wir schon seit unserer Gründung darauf fokussiert sind“, sagte er mir 2021, als ich ihn das erste Mal interviewte. Unter Cooks Unternehmensführung hat Apple verschiedene öffentliche Werte und Praktiken aufgegriffen, die besonders im Bereich Datenschutz rigoros sind. „Wir erachten Privatsphäre als grundlegendes Menschenrecht“, so Cook. „Daher versuchen wir, unsere Produkte so zu designen, dass nur ein Mindestmaß an Daten erfasst wird. Ebenso wichtig ist es uns, die Menschen selbst darüber entscheiden zu lassen, was mit ihren Daten passiert.“ Da ist das kürzlich gelaunchte Opt-in-Datenschutz-Tool in Apples App Store, offiziell App Tracking Transparency genannt, mit dem man Tracking-Anfragen jeglicher Apps ablehnen kann. Tech-Giganten wie Meta und Google – Apples Konkurrenz – hatten seit Jahren Daten ihrer Nutzer gesammelt und über Werbung zu Geld gemacht. Und auch Apple hat sein eigenes Werbegeschäft sowie eine Partnerschaft mit Google, die seine Suchmaschine in Apples Web-Browser Safari als Standard festlegt. Trotzdem gab Cook der Apple-Kundschaft dieses Tool, um die Erfassung und den Verkauf von Daten zu verhindern. (Was dem Geschäft der Konkurrenz praktischerweise zugleich einen Schlag versetzte.)

Im Zeichen der Privatsphäre hat Apple Unternehmen, die den App Store nutzen, zudem verboten, Personen aus dem Apple-Ökosystem zu lotsen, um ihnen Geld abknöpfen; und das obwohl Apple eine Provision für Transaktionen erhält, die innerhalb des Stores erfolgen. Apples kürzliches Sideloading-Verbot ist bei Regierungen weltweit auf Kritik gestoßen. Es sei wettbewerbswidrig, hieß es. Cook jedoch wies die Kritik zurück. „Der App Store wurde als vertrauenswürdiger Ort geschaffen, an dem Entwickler und Nutzer zu für beide Seiten lohnenden Transaktionen zusammenkommen können“, so Cook. „Und damit dieses Vertrauen seitens der Konsumenten da ist, sind Privatsphäre und Sicherheit unabdingbar. Niemand besucht ein Geschäft, in dem man mit Kreditkarten- oder Datenbetrug rechnet. Wir glauben, dass dieses Vertrauen in einer Welt, in der Sideloading erlaubt ist, degradiert wird. Dann kommt es zu all diesen Sicherheits- und Datenschutzproblemen.“

Tim Cook rückt Werte in den Fokus von Apple

Vielleicht sind Sie nicht überzeugt, vielleicht glauben Sie jedes Wort. Doch Cook ist außergewöhnlich erfolgreich darin, Werte – die Idee, dass Apple mehr ist als seine Produkte oder sein Aktienpreis – in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung des Unternehmens zu rücken. Vor drei Jahren gab Apple die Absicht bekannt, spätestens 2030 eine klimaneutrale Lieferkette zu haben. Allein die Ankündigung stellte eine grundlegende Veränderung von Apples DNA dar. „Geheimhaltung wird bei uns großgeschrieben“, so Cook. „Wir behalten Dinge gerne für uns, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, darüber zu sprechen. Aber bei unseren Werten hat sich einiges getan. Und in Bezug auf die Umwelt sprechen wir jetzt darüber, wie das Unternehmen 2030 aussehen soll, und über die Roadmaps, die uns ans Ziel bringen sollen. Wir möchten quasi, dass die Idee gestohlen wird.“ Viele dieser Ideen ersinnt Cook gemeinsam mit Jackson. „Ich habe schon viele CEOs getroffen“, so Jackson über ihre Zeit als EPA-Chefin. „Und alle wollten wissen, was sie tun müssen, damit ich wieder gehe. Manchmal wollten sie, dass ich eine Verordnung festlege, mit der sie mehr Geld verdienen oder zumindest kein Geld verlieren würden. Ich respektiere das, aber ich finde es großartig, dass er vorhat, daraus ein allumfassendes Apple-Vorhaben zu machen. Dass er sich überlegt, wie er eine Kettenreaktion auslösen kann.“

Cooks natürliche Skepsis hinsichtlich Technologien und seine aufrichtige Liebe zur Natur machen ihn zu der Art glaubhaften Botschafter für ein werteorientiertes Unternehmen, wie es ein immerfort sarkastischer Steve Jobs nie hätte sein können. Einmal merke ich leicht überspitzt, aber begründet, an, dass mein iPhone unter Umständen den Tod meiner Gehirnzellen bedeuten könnte. Cook übernimmt in Situationen wie diesen gerne die Rolle des Therapeuten; sehr überzeugend, wie ich jetzt selbst bestätigen kann. Und das obwohl es sein täglich Brot ist, so viele neue iPhones wie möglich unter die Leute zu bringen.

„Wir versuchen Tools zu entwickeln, die Leuten helfen, ihr Telefon aus der Hand zu legen“, antwortet Cook ruhig. „Denn meine Philosophie ist es, dass wir etwas falsch machen, wenn wir länger auf unser Handy als in die Augen einer anderen Person schauen. Deshalb gibt es Features wie die Bildschirmzeit. Ich sehe mir meinen Bericht jedenfalls sehr genau an.“

Ich habe ein kleines Kind, das, vielleicht wenig überraschend, quasi an meinem Handy klebt. Wo das Handy ist, da ist es auch. Als ich es Cook erzähle, nickt er halb verständnis-, halb vorwurfsvoll. „Kinder werden in die digitale Welt hineingeboren, sie kennen es nur so“, so Cook. „Und meiner Meinung nach ist es unheimlich wichtig, dass wir klare Grenzen setzen. Wir entwickeln Technologien, um Dinge zu tun, die zuvor nicht möglich waren; um Dinge zu erschaffen, die wir nicht erschaffen konnten; um Dinge zu lernen, die wir nicht lernen konnten. Das ist es, was uns wirklich antreibt. Wir wollen nicht, dass die Leute ihre Handys zu viel nutzen. Das ist nicht unser Anreiz oder unser Ziel. Wir entwickeln Tools, damit das nicht passiert.“

Tim Cook mit den Darstellern von „CODA“, dem von Apple produzierten Film, der im letzten Jahr den Oscar für den besten Film gewann.

Chris Pizzello/Invision/AP/Shutterstock

V. Es ist eine seltsame Bedingung für die Leitung eines Unternehmens wie Apple, alle paar Jahre die tragenden Säulen unseres Lebens auf den Kopf zu stellen. Fast unauffällig ist Cook dies über den Ausbau der Services-Sparte gelungen, eine Kategorie, die Apple News, Apple Pay, Apple Music und Apple TV+ umfasst. Im letzten Quartal zum Dezember 2022 verzeichnete der Geschäftsbereich mit Einnahmen in Höhe von 20,8 Milliarden US-Dollar einen neuen Umsatzrekord. „Vor noch einem Jahrzehnt waren Services nur ein kleiner Teil des Unternehmens“, sagt Cook. Inzwischen macht die Sparte fast 20 % des Apple-Geschäfts aus. Im letzten Jahr gab es einen Oscar für „CODA“, einen Film, den Apple beim Sundance-Festival für 25 Millionen US-Dollar gekauft hat. „Wir sind noch in der Rookie-Phase“, sagt Cook. „Und wir haben schon einen Oscar für den besten Film gewonnen.“ Kürzlich engagierte das Unternehmen Timothée Chalamet für eine Reihe von Werbeanzeigen für Apple TV+, in denen er über verschiedene Rollen in Apples wachsendem Screen-Universum sinniert, die er selbst gerne übernommen hätte. Cook höchstpersönlich segnete das Projekt ab. „Ich liebe diese Werbung“, grinst er.

Und doch haben manche das Gefühl, dass Cook ein transformatives Produkt vom Geschichteschreiben entfernt ist. Was für ein Produkt das ist, darüber wird, wie sollte es bei Apple auch anders sein, seit Ewigkeiten spekuliert. Inzwischen häufen sich die Gerüchte, dass Apple in relativ naher Zukunft etwas im Bereich erweiterte und virtuelle Realität vorstellen wird (wie das bereits erwähnte Mixed-Reality-Headset). Und dann vielleicht irgendwann etwas im Automobilbereich. Langjährige Apple-Fans werden nicht überrascht sein, dass Cook nicht vor hat, diese theoretischen Produkte in meiner Gegenwart anzukündigen. Aber er war gewillt, mir zu erklären, warum Apple, ganz hypothetisch natürlich, Interesse an der AR- und VR-Welt haben könnte.

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Liegt Apples Zukunft in der AR-/VR-Technologie?

„Denken Sie an die Technologie selbst mit erweiterter Realität, an nur einen Aspekt eines AR-/VR-Geräts. Die Idee, dass man die physische Welt mit Dingen aus der digitalen Welt kombinieren kann, könnte die Kommunikation und die Beziehung zwischen Menschen masiv verbessern“, erklärt Cook. „Es könnte uns dazu befähigen, Dinge zu erreichen, die wir sonst nicht erreichen können. Vielleicht könnten wir viel einfacher kollaborieren, wenn wir beim Brainstormen spontan etwas Digitales hervorzaubern können, das wir beide sehen können, um dann damit weiterzuarbeiten und kreativ zu werden. Die Idee ist, dass es eine Umgebung gibt, die vielleicht besser ist als die reale Welt. Mit der virtuellen Welt als Overlay könnten wir die Welt noch mehr optimieren. Wir könnten kreativer sein, wenn es etwas gäbe, das uns bei den Dingen helfen würde, die wir tagtäglich machen, bei denen wir aber nie darüber nachdenken, ob wir sie auch anders machen könnten.“

Cook zeigt auf eine der Glasscheiben. Wir könnten sie ganz einfach ausmessen, sagt er. Wir könnten Kunst an die Wand bringen und sie uns jetzt in diesem Moment ansehen. Dies seien einige der ersten AR-Träume gewesen. Oder in anderen Worten: Stellen wir uns vor, was sonst noch möglich wäre, was vielleicht schon erfunden wurde und im Entstehen ist.

Als Cook vor Jahren einmal von Ian Parker vom „The New Yorker“ gefragt wurde, ob Apple auch Brillen anbieten werde (es war die Zeit von Google Glass, einem der frühen AR-Produkte), antwortete er, dass er der Sache skeptisch gegenüberstehe: „Wir waren immer der Meinung, dass Brillen kein besonders smarter Move waren. Wer will die tragen? Sie stören, statt dass die Technologie in den Hintergrund rückt, was immer unser Ziel war.“ Und: „Wir dachten immer, dass es ein Flop werden würde. Und bisher war das auch so.“

Er lacht, als ich ihn darauf anspreche. „Ich lerne immer dazu. Steve hat mir beigebracht, nie auf der Überzeugung von gestern zu bestehen; immer zuzugeben, wenn es neue Erkenntnisse gibt, die zeigen, dass man daneben lag. Und dann nach vorne zu schauen, statt darauf zu beharren, dass man Recht hatte.“

Weder Google Glass noch– aktueller – Metas Quest haben sonderlich hohe Wellen auf dem Markt geschlagen. Ich frage Cook, ob ihn diese Tatsache an dem Plan zweifeln lasse, etwas in diesem Bereich zu launchen. Er überlegt und kommt dann wieder auf Apples Erfolge bei Dingen zu sprechen, die andere skeptisch sahen. „Bei fast allem, was wir je gemacht haben, gab es jede Menge Skeptiker“, so Cook. „Wer Innovation wagt, wird immer auch auf Skepsis stoßen.“ Er sagt, dass er sich die folgenden Fragen stelle, wenn es um einen neuen Markt geht: „Können wir einen bedeutenden Beitrag leisten, etwas, das andere nicht machen? Können wir die primäre Technologie besitzen? Ich habe kein Interesse daran, Teile für andere zusammenzubauen. Wir wollen die Kontrolle über die primäre Technologie haben, weil wir wissen, dass man so Innovationen schafft.“

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VI. Im Januar verkündete Apple, dass Cooks Gehalt auf seinen Wunsch um etwas mehr als 40 Prozent gekürzt werde, auf 49 Millionen US-Dollar. Apple hat Cook über die Jahre sehr reich gemacht (Forbes schätzt sein Vermögen auf rund 1,8 Milliarden US-Dollar; 2015 sagte er, dass er vorhabe, sein Vermögen für wohltätige Zwecke zu spenden, abzüglich der Studienkosten für seinen Neffen). Doch in diesen ungewissen Zeiten hielt er es für das Beste, vorerst etwas weniger zu verdienen. „Angesichts der Situation, in der wir uns befinden, nein, nicht wir, die Welt, möchte ich mit gutem Beispiel vorangehen. Es hat sich auch einfach richtig angefühlt, deshalb habe ich es vorgeschlagen. Etwas anderes verbirgt sich dahinter nicht.“ Apple stelle trotz der angespannten Wirtschaftslage noch immer ein, sagt Cook, wenn auch vielleicht weniger als sonst. Genauso sieht es auch bei den Investitionen aus. Im Großen und Ganzen, so Cook, „konzentrieren wir uns definitiv auf langfristige Ziele.“

Dieser Ort hat von langfristigen Zielen profitiert: Man muss nur einen Blick nach draußen werfen. Cook schlägt einen Spaziergang über den Campus vor. Ich frage ihn, ob ich den Ausweis brauche, der mir am Empfang gegeben wurde. Er lacht. „Vielleicht werden wir beide gestoppt.“

Wir machen uns auf den Weg nach draußen. Das höfliche, emsig wirkende Kommunikationsteam geht uns voraus. Cook tauscht neutrale Hallos mit den Entgegenkommenden aus. Er sagt, er mache diesen Spaziergang mehr oder weniger täglich. „Wenn man so etwas vor der Nase hat und Spaziergänge mit Gesprächen verbinden kann, dann macht man ja nicht gerade blau.“ Es gibt auf dem Campus auch mehrere Golfcarts. „Ich gehe lieber zu Fuß“, sagt er bestimmt. „Ich bin kein Golfcart-Mensch.“

Die Sonne scheint. Durch das Glas, in dem Gebäude, das den Innenhof umringt, sieht man Zweier- und Dreiergrüppchen Apple-ähnliche Kurven auf Whiteboards malen. Am Teich werden wir unterbrochen; Cook wird zu seinem nächsten Meeting geführt. Er winkt zum Abschied und überlässt mich meinem perfekten Tag hier in Cupertino, dem Wetterstandort, den mein iPhone immer schon als Standard nimmt.

Zach Baron ist Senior Staff Writer bei GQ.

Die neue GQ

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PRODUCTION CREDITS:
Fotos Mark Mahaney
Styling Marcus Allen
Vor Ort im Apple Park fotografiert.

FASHION CREDITS:
Von oben nach unten: (1.) Blouson, Tom Ford. Hemd, Brioni. Jeans, Levi’s. Brille (auf allen Fotos, privat). Uhr, Apple Watch Ultra. (2.) Hemd, Kiton. (3.) Hemd, Kiton. (4.) Hemd, Kiton. Hose, Paige. Gürtel, Nordstrom. Boots, Berluti. Uhr, Apple Watch Series 8.

ADAPTATION:
Anna Lena Ahlers