"Oxymore": Jean-Michel Jarre über die Herausforderungen von 3D-Audio

c’t sprach mit dem Musik-Pionier Jean-Michel Jarre anlässlich seines neuen Albums "Oxymore", einer der bislang größten Audio-Produktionen in 3D.

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(Bild: Vershinin89/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.

Der französische Pionier der elektronischen Musik Jean-Michel Jarre (74) veröffentlicht am 21. Oktober sein neues Album "Oxymore" – eine der bislang aufwendigsten Produktionen in 3D-Audio überhaupt. c’t sprach mit Jarre über die Änderungen, die 3D-Audio für Musiker mit sich bringt und welche technischen Hürden die Industrie bei der Wiedergabe noch überwinden muss.

c’t: Normalerweise komponieren, arrangieren und mischen Musiker ihre Stücke zunächst in Stereo und wandeln sie anschließend in 3D-Audio um. Sind Sie bei "Oxymore" ebenso vorgegangen?

Jean-Michel Jarre: Nein, ich habe die Musik für Oxymore in einem 360-Grad-Setup mit 7.1-Lautsprechern komponiert und daraus später neben den Mehrkanalmixen auch eine Stereoversion erstellt. In der Natur gibt es kein Stereo. Alle Geräusche, die wir hören, stammen aus Monoquellen um uns herum – etwa wenn wir hier miteinander sprechen oder wenn ein Auto vorbeifährt. Daher kommen 3D-Audio und die binaurale Kopfhörerwiedergabe dem natürlichen Hören näher als die Stereowiedergabe.

Jean-Michel Jarre startete Ende der 60er mit Kompositionen für Ballett, Film und Musique concrete, bevor er 1976 mit dem Album "Oxygene" seinen weltweiten Durchbruch feierte.

(Bild: Feng Hai)

c’t: Welche Digital Audio Workstations und Raumklang-Software setzten Sie für die Produktion von "Oxymore" ein?

Jarre: Ich bin an Ableton Live gewöhnt, deshalb habe ich damit den Mix erstellt und ihn in Avid Pro Tools finalisiert. Für den Raumklang nutzten wir L-ISA Studio von L-Acoustics, das wir ebenfalls für meine Live-Shows einsetzen. Die Mehrkanalversionen von Oxymore haben wir schließlich mit Steinberg Nuendo erzeugt. Es wandelt aus einem 3D-Projekt verschiedene Ausgabeformate wie Dolby Atmos und alle erdenklichen Lautsprecherkonfigurationen ab. Auf diesem Gebiet ist Nuendo derzeit das mit Abstand beste Werkzeug auf dem Markt.

c’t: Welche Kopfhörer haben Sie zum Mixen und Mastern verwendet, und welche würden Sie Zuhörern für die binaurale Version empfehlen?

Jarre: Im Studio prüfe ich die Mischungen mit neutralen offenen Modellen wie dem Ollo S4X und dem Sennheiser HD 600. Die Wiedergabe beim Publikum haben mein Team und ich mit knapp 80 Kopfhörern getestet. Viele Modelle haben zu viel Bass, wie etwa Apples AirPods Max. Gut klangen beispielsweise Sonys MDR-7506, Bose 700 und Apples AirPods.

c’t: Was müssen Sie bei der Komposition und beim Arrangement in 3D beachten und was ändert sich gegenüber einem Stück in Stereo?

Jarre: In Stereo muss ich Klänge wie ein Maler in immer neuen Schichten in 2D vor mir anordnen. Wenn ich zu viele Schichten auftrage, wird alles grauer Matsch. Deshalb gilt in Stereo der Grundsatz: Weniger ist mehr. In 3D nimmt hingegen jeder Klang seinen eigenen Raum ein. Dort kann durchaus gelten: Mehr ist mehr und vielleicht sogar besser. Als Musiker bekomme ich dadurch Freiheiten für komplett neue Ansätze.

c’t: Ihre Komposition ist recht dicht, überall um den Zuhörer herum passiert etwas. Haben Sie beim Downmix in Stereo Elemente weggelassen oder verändert?

Jarre: Der Stereomix enthält alle Elemente der 360-Grad-Versionen, da habe ich nichts weggelassen. In Stereo muss man jedoch anders mixen als in 3D, weil die Klänge anders verschmelzen. Stereo bietet weniger Platz, Frequenzbereiche einzelner Spuren überlagern sich stärker. Das muss man im Mix berücksichtigen, speziell im Bass und in den unteren Mitten.

c’t: Was halten Sie davon, alte Aufnahmen in 3D zu wandeln?

Jarre: Ich bin kein Freund davon, Stereoaufnahmen in 3D umzuwandeln. Es funktioniert einfach nicht. Die Industrie denkt jedoch, sie könnten den alten Katalog an Stereo-Alben in 3D konvertieren. Das ist aber ein großer Fehler. Aus kreativer Perspektive muss man die Musik von Anfang an für dieses neue Medium konzipieren. Es gibt keinen Grund, Frank Sinatra in 3D neu abzumischen, damit seine Stimme um den Kopf herum kreist. Das interessiert niemanden.

c’t: Es existieren aber durchaus einige Jazz-Aufnahmen etwa von Blue Note, die in Dolby Atmos sehr überzeugend klingen …

Jarre: Das ist Geschmackssache. Charlie Parker und John Coltrane wurden in Mono mit großen Mikrofonen aufgenommen. Das war damals eine andere Technik. Es wäre ebenso unsinnig, ein Rembrandt-Gemälde in 3D zu digitalisieren. Darin sehe ich keinen Sinn.

c’t: Wie zufrieden sind Sie mit Dolby Atmos?

Jarre: Wir befinden uns noch immer im finsteren Mittelalter der dreidimensionalen Musikproduktion. Bislang war ich kein großer Fan von binauralen Abmischungen. Aus drei Gründen: Erstens verschmelzen die Instrumente anders miteinander. Binaurale Mixe verlieren dadurch im Bass und in den unteren Mitten an Dynamik. Zweitens wurden Mixwerkzeuge von Dolby Atmos nicht für Musik, sondern für Kinosäle entwickelt. Dort kommt der Dialog laut von vorn aus der Mitte, die hinteren Kanäle sind leiser. In der Musik haben wir aber eine egozentrische Hörsituation, in der Sie im Zentrum sitzen und alle Lautsprecher um Sie herum gleichberechtigt sind. Drittens wurden die zur binauralen Konvertierung für Kopfhörer eingesetzten Filter ebenfalls für Filme entwickelt. Wenn ich die Richtung einer Snare um 30 Grad verschiebe, ändert sich ihr Klang aufgrund dieser Filtercharakteristiken, was man wieder ausgleichen muss.

Dolby ist sich der Probleme bewusst und arbeitet eng mit Musikern zusammen. Derzeit haben wir Musiker aber keinen Zugriff auf die nötigen Tools, um etwa die binauralen Transferfilter nach unseren Bedürfnissen anzupassen.

Das neue Album "Oxymore" komponierte Jarre in einem 360-Grad-Setup. Neben verschiedenen 3D-Formaten sollen auch eine binaurale Version für Kopfhörer und eine Stereoversion erscheinen.

c’t: Und wie sieht es bei Sonys 360 Real Audio aus?

Jarre: Sonys 360 Real Audio wurde von Fraunhofer entwickelt. Für Lautsprecher ist es das beste 3D-Format auf dem Markt. Aber die Transferfilter für Kopfhörer sind schlecht. Wir haben eine Testversion meines Albums "Oxygene" in 360 Real Audio produziert, und es klang überhaupt nicht gut. Es ist ein Mysterium. Ich habe mit Fraunhofer darüber gesprochen, aber wir wissen nicht warum. Sie müssen das unbedingt verbessern.

c’t: Die Streaming-Dienste von Apple, Amazon und Tidal bieten 3D-Musik in verschiedenen Formaten an. Wie bekommen Sie als Musiker die Unterschiede in den Griff?

Jarre: Apple möchte die Hörer davon überzeugen, dass man mit ihrer Automatik jeden Stereomix in 3D wandeln kann und er sich danach besser anhört. Das stimmt jedoch nicht. Sie verstärken den Bass, fügen etwas Hall hinzu und erhöhen die Lautstärke. Die Zuhörer meinen dann, es hört sich besser an, nur weil es lauter ist.

Hinzu kommt, dass sich die Wiedergabe von 3D-Musik bei den Streaming-Diensten aufgrund der unterschiedlichen Aufbereitungen durch Apple, Dolby und Sony unterscheidet. Um diese Formatprobleme auszugleichen, mussten wir bei "Oxymore" für jede Plattform einen eigenen 3D-Mix produzieren. Das ist ein großes Problem. Für ein Studio ist es derzeit nahezu unmöglich, für jede dieser Plattformen und Formate ein passendes Mehrkanal-Master anzufertigen.

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(hag)