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Radium-Arbeiterinnen: Der "flüssige Sonnenschein" und die riesigen Risiken

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"Radium Girls" Frauen, die im Dunkeln leuchten

Sie wurden verstrahlt, ohne es zu ahnen: Vor 100 Jahren bemalten Arbeiterinnen Uhren mit Radium-Leuchtfarbe. Ihr Ende war grausam - doch zuvor schrieben sie Geschichte.

Für Katherine, 14, wurde ein Traum wahr. Aufgeregt begann sie im Februar 1917 ihren ersten Arbeitstag bei der US Radium Corporation. Die Firma hatte ihren Sitz in der 3rd Street in Newark (US-Bundesstaat New Jersey) und eine weitere Niederlassung in der Stadt Orange. Was Schaub nicht ahnte: Sie und ihre Kolleginnen hatten einen verhängnisvollen Fehler begangen.

"Radium Girls" wurden die Arbeiterinnen genannt; stolz sprachen sie davon, dass sie im "Atelier" tätig waren. Dass ihr neuer Job etwas Besonderes, ja Geheimnisvolles war, merkte Katherine Schaub auch, als sie an diesem 1. Februar 1917 in der Dämmerung heimging: Ein goldener Schimmer umgab das Mädchen in der Dunkelheit, ihre Haare schienen zu leuchten.

Schaubs Aufgabe im "Atelier" war es, mit einer selbstleuchtenden Farbe Zifferblätter zu bemalen. Von Uhren, ebenso von Flugzeuginstrumenten, deren Ziffern nachts leuchten mussten. Jede Arbeiterin mischte ihre eigene Farbe an. In einen Tiegel gab sie Wasser, Gummi Arabicum, Zinksulfid und dazu eine besondere Substanz: Radium. Auf geradezu mystische Weise entstand eine grün-weiße, hell leuchtende Farbe. Der Effekt war atemberaubend.

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Radium-Arbeiterinnen: Der "flüssige Sonnenschein" und die riesigen Risiken

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Die Farbe enthielt nur geringe Spuren Radium. Aber die Partikel setzten sich überall fest, auf den Arbeitsplatten, in den Haaren, der Kleidung. Von der Straße aus bemerkten Passanten, dass ein goldener Schein die Frauen in dem Raum umgab, wo sie die Ziffernblätter prüften. "Sie sahen wie Engel aus einer anderen Welt aus", berichtete einer.

Die britische Autorin Kate Moore hat für ihr Buch "The Radium Girls" monatelang Briefe der Frauen, Gerichtsakten, Tagebücher und Zeitungsartikel zusammengetragen und mit vielen ihrer Verwandten gesprochen. Herausgekommen ist eine einzigartig detaillierte Chronik des Radium-Skandals.

Radium als Potenzmittel

1898 hatten Marie und Pierre Curie das Element Radium entdeckt. Bald schon galt es als "größte Entdeckung der Geschichte" - und als teuerste Substanz der Welt. Aus einer Tonne Erz gewann man in einem mühsamen Verfahren gut fünf Milligramm Radium. Ein einziges Gramm kostete nach heutigem Wert rund 2,2 Millionen US-Dollar. Eine regelrechte Gier nach dem "flüssigen Sonnenschein" setzte ein.

Ganz ähnlich wie in den frühen Jahren nach Entdeckung der Röntgenstrahlung ahnte man noch nichts von den gefährlichen Nebenwirkungen. Radium galt - nicht nur in den USA - als lebensrettend und gesundheitsfördernd, es schien für alles gut: als Medikament gegen Gicht, Verstopfung oder Heuschnupfen, sogar als Potenzmittel.

"Manchmal glaube ich, dass ich die Funken in meiner Anatomie spüren kann", sagte ein damaliger Benutzer. Verkauft wurden auch radiumbenetzte Herrenunterhosen und Büstenhalter. Lebensmittelläden verkauften radiumhaltige Butter, Apotheken radiumhaltiges Wasser, das zu ungeahnter Vitalität verhelfen sollte - empfohlene Tagesdosis fünf bis sieben Gläser.

Zehn Jahre später begann der Erste Weltkrieg, am 6. April 1917 schickte auch US-Präsident Woodrow Wilson Truppen auf das europäische Schlachtfeld. Bei der US Radium Corporation gingen fast täglich neue Regierungsaufträge ein: Selbstleuchtende Instrumententafeln wurden gebraucht für Flugzeuge, Panzer und Schiffe.

Leuchtfarbe für ein strahlendes Lächeln

Die kleinsten zu bemalenden Objekte waren Taschenuhren mit knapp 3,5 Zentimetern Durchmesser. Die Striche auf dem Zifferblatt durften nur einen Millimeter breit sein. Dafür benutzten die Frauen Kamelhaarpinsel. "Ich hatte noch nie einen so feinen Pinsel gesehen. Er hatte wohl nur 30 Haare", berichtete eine Arbeiterin. Schon nach ein paar Strichen jedoch strebten sie widerborstig in alle Richtungen. Um die Spitze wieder zu schließen, sahen die Frauen nur eine Möglichkeit: "Wir nahmen die Pinsel in den Mund", erinnerte sich Katherine Schaub in einem Tagebucheintrag.

Spitzenkräfte wie ihre Kollegin Grace Fryer schafften bis zu 250 Zifferblätter am Tag. Vor Kriegseintritt der USA waren etwa 70 Frauen im "Atelier" tätig, ab 1918 mehr als 200.

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Foto: Deutsche Fotothek/Franz Stoedtner

Undark hieß die Leuchtfarbe, mit der die Frauen arbeiteten. Entwickelt hatte sie der Österreich-stämmige Wissenschaftler Sabin Arnold von Sochoky, Mitgründer der US Radium Corporation. Sein Handwerk hatte er bei den Entdeckern des Elements gelernt, bei Marie und Pierre Curie, und wusste, dass der Umgang mit Radium extrem gefährlich war. Sochoky hatte dies selbst schmerzlich erfahren: Bei einem Experiment berührte er versehentlich mit der Spitze seines linken Zeigefingers Radium - und amputierte sich danach auf der Stelle selbst das Fingerglied.

Im Firmenlabor mussten die Mitarbeiter Schutzkleidung tragen und Radiumröhren nur mit Zangen aus Elfenbein bewegen. Im "Atelier" dagegen: keinerlei Vorsichtsmaßnahmen. Alle dachten, die geringe Konzentration in der Leuchtfarbe sei absolut harmlos. "Für uns bedeutet Radium heute eine große Liebesgeschichte", schrieb Sochoky damals im illustrierten "American Magazine" - und schloss mit den vieldeutigen Worten: "Aber was es für uns morgen bedeuten wird, kann niemand vorhersagen."

Im "Atelier" werkelte man weiter ganz unbekümmert. Eine italienischstämmige Arbeiterin bemalte sich vor einem Rendezvous ihre Zähne mit Leuchtfarbe, um ihren Angebeteten mit einem Lächeln zu überraschen, das ihn "umhauen sollte". War das Radium aber einmal im Körper, verließ es ihn nie wieder.

Als wären ihre Knochen aus Glas

"Was nach dem Naseputzen in meinem Taschentuch landete, leuchtete nachts", amüsierte sich Grace Fryer. Die wahren Folgen zeigten sich erst Jahre später. So bekam ihre Kollegin Amelia "Mollie" Maggia im Oktober 1921 überraschend Zahnschmerzen und ließ sich einen Zahn ziehen. Nach Wochen wollte die Wunde noch immer nicht heilen. Weitere Zähne wurden entfernt, auch das brachte keine Linderung.

Amelia Maggia hatte bald kaum mehr Zähne im Mund. Zum Entsetzen ihres Arztes brach, als er vorsichtig ihr Kinn berührte, der Kieferknochen zwischen seinen Fingern entzwei. Im September 1922 verblutete die junge Frau. Sie war 24 Jahre alt.

Anderen brach völlig überraschend die Wirbelsäule, als wäre sie aus Glas. Wie Kalzium lagerte sich das Radium in den Knochen ein und erzeugte mit der Zeit Löcher und Risse. Ärzte tippten auf Syphilis oder eine Phosphor-Vergiftung. Es war, als griffe eine unbekannte Kraft die Frauen von innen an. Einige wurden in Ganzkörpergipsverbände gezwungen, andere bekamen Korsettstangen verpasst.

Als zehn weitere Frauen tot waren, fasste sich Grace Fryer ein Herz und verklagte am 18. März 1927 gemeinsam mit vier ehemaligen Kolleginnen die US Radium Corporation auf Schadensersatz von - nach heutigem Wert - knapp 3,5 Millionen US-Dollar.

Die Firmen spielten vor Gericht auf Zeit

Nun leiteten auch die Behörden Untersuchungen ein. Am 15. Oktober 1927 wurde in Orange die Leiche von Amelia Maggia exhumiert. Als die Dämmerung einsetzte, sahen die Totengräber den Sarg, den sie ausgehoben hatten, in einem unnatürlichen Licht erstrahlen. Der Leichnam war sehr gut erhalten, die mit dem Fall befassten Ärzte und Chemiker ließen Knochen der Frau zu Asche verbrennen. Selbst fünf Jahre nach dem Tod war das Radium noch nachzuweisen.

Das Gerichtsverfahren begann am 12. Januar 1928. Die Vertreter der US Radium Corporation spielten auf Zeit und verlangten immer wieder neue Studien, um keine Entschädigung zahlen zu müssen. Im Sommer 1928 endete der Prozess mit einem Vergleich: Jedes der "Radium Girls" erhielt eine Summe von knapp 140.000 Dollar (nach heutigem Wert) und eine lebenslange Rente.

Ähnliche Prozesse folgten gegen weitere Radium-Fabriken, etwa in Ottawa (Illinois). Achtmal mussten die Frauen dort in Berufung gehen, um Recht zu bekommen. Sie kämpften im wahrsten Sinne bis zu ihrem Tod.

Die Urteile führten dazu, dass in den USA erstmals klare Arbeitsschutzregeln erlassen wurden. Zudem konnten fortan alle Beschäftigten, die nachweislich durch die Arbeit erkrankt waren, ihre Firmen verklagen.

Für die Frauen, die weiter mit der radiumhaltigen Farbe umgingen, verbesserte sich die Lage deutlich, das Pinselanspitzen mit den Lippen war fortan verboten. Offiziell litt keine nach 1927 eingestellte Arbeiterin mehr an Strahlenschäden. Wie viele Frauen in den Radium-Fabriken insgesamt erkrankten und starben, ist unklar. Die britische Autorin Kate Moore vermutet mehrere Tausend Opfer.

Katherine Schaub, die als 14-Jährige im "Atelier" angefangen hatte, starb 1933 im Alter von 30 Jahren an Knochentumoren. Zuvor war im November 1928 schon Firmengründer Sabin Arnold von Sochoky gestorben - an Leukämie, trotz 13 Bluttransfusionen. "Er wurde Opfer seiner eigenen Erfindung", schrieb die "New York Times" in ihrem Nachruf.