Zum Inhalt springen

Russischer Atom-Torpedo Putins rätselhafte "Weltuntergangsmaschine"

Seit Jahren kursieren Gerüchte über einen russischen Atom-Torpedo. Jetzt taucht das Unterwassergeschoss erstmals in einem öffentlichen Regierungsdokument auf - in den USA.
Russlands Präsident Putin mit Militärs

Russlands Präsident Putin mit Militärs

Foto: Sputnik Photo Agency/ REUTERS

Es war einer dieser angeblichen Zufälle, an deren Zufälligkeit kaum jemand glaubt. Am 9. November 2015 hielt der russische Präsident Wladimir Putin eine eher langweilige Rede vor Generälen, es ging um Russlands Rüstungsindustrie und die Raketenabwehr der USA. Scheinbar zufällig schwenkte die TV-Kamera auf einen Zettel mit technischen Zeichnungen eines russischen Torpedos.

Was dort zu lesen war, schockierte westliche Experten: Das Unterwassergeschoss namens "Status-6" sollte "wichtige Teile der gegnerischen Wirtschaft in einem Küstengebiet beschädigen" und "ausgedehnte Bereiche radioaktiver Kontamination schaffen, die auf lange Sicht militärisch, wirtschaftlich und für andere Aktivitäten unbenutzbar wären". Die Aufregung im Westen war groß. Schnell war die Rede von einer "Weltuntergangsmaschine", die mit einer Sprengkraft von 100 Megatonnen TNT 500 Meter hohe Tsunamis auslösen, Hunderttausende töten und dank einer Kobalt-Hülle riesige Küstengebiete für Jahrhunderte verstrahlen könnte.

Ein Jahr später folgten Berichte  von einem ersten Test der Waffe. Doch die Quellen waren stets anonym, eine offizielle Bestätigung fehlte - bis jetzt. Die kürzlich veröffentlichte neue Nukleardoktrin der USA ist das erste öffentlich einsehbare Regierungsdokument, das auf die Existenz des Torpedo-Programms hinweist. Russland entwickle einen "neuen interkontinentalen, nuklear bewaffneten und angetrieben autonomen Untersee-Torpedo", heißt es im "Nuclear Posture Review"  (NPR) des Pentagon.

Technische Details machen skeptisch

Das Problem: Mehr als diesen Halbsatz gibt es nicht. Keine Details über Reichweite, Sprengkraft, Steuerung, Geschwindigkeit oder Größe tauchen auf. Auch bleibt offen, wann die Waffe einsatzbereit sein soll oder ob damit jemals zu rechnen ist. Nur die bloße Existenz des Projekts scheint nun bestätigt.

Dabei geben die technischen Details, die bisher kursierten, durchaus Anlass zu grundlegender Skepsis. Die angebliche Sprengkraft von bis zu 100 Megatonnen TNT wäre in etwa doppelt so groß wie die der stärksten jemals gezündeten Atomwaffe, der russischen "Zar"-Bombe, und viermal so groß wie die der stärksten Atomwaffe, welche die Amerikaner jemals in ihrem Arsenal hatten.

Die Reichweite des Torpedos - manchmal ist auch von einer Drohne die Rede - soll bei 10.000 Kilometern liegen, weshalb er angeblich von einem Atomreaktor angetrieben wird. Zugleich soll die Höchstgeschwindigkeit 56 Knoten oder knapp 100 km/h betragen. Wie man aber einen derart leistungsfähigen Nuklearantrieb in einen Torpedo bekommt, der laut dem abgefilmten Dokument einen Durchmesser von 160 Zentimetern haben soll, ist unklar.

Unter Wasser funkt es sich schlecht

Auch die Fernsteuerung wäre knifflig. Denn Wasser ist sehr gut darin, Funkwellen aufzuhalten. Zwar können Signale mit extrem großen Wellenlängen bis zu 300 Meter tief eindringen, dabei aber nur winzige Datenmengen transportieren. U-Boote müssen deshalb bis knapp unter die Wasseroberfläche auftauchen, um größere Datenmengen empfangen zu können. Wollte der russische Torpedo selbst senden, etwa Informationen über seine Position, müsste er eine Antenne aus dem Wasser halten oder eine Funkboje aufsteigen lassen.

Warum aber übernimmt das US-Verteidigungsministerium den "Status-6"-Torpedo - anderswo wird er auch "Kanyon" genannt - trotzdem und ohne weitere Details in die Nukleardoktrin? Die Antwort könnte ebenfalls das NPR liefern, denn es fordert auch die Entwicklung kleiner, leichter einsetzbarer Atomwaffen. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, lassen die Autoren des Berichts offenbar kaum etwas unversucht, den Eindruck einer dramatisch wachsenden Bedrohung durch gegnerische Atommächte zu erwecken.

So gibt es im NPR bemerkenswerte Schaubilder. Eines zeigt, dass Russland seit 2010 nicht weniger als 14 neue Atomwaffen-Trägersysteme entwickelt hat, von der Interkontinentalrakete über einen Tarnkappen-Langstreckenbomber bis hin zum "Status-6"-Atomtorpedo. Die Chinesen hätten im gleichen Zeitraum neun Systeme entwickelt, selbst das kleine Nordkorea habe es auf elf Stück gebracht. Und die USA? Auf eines, den pannengeplagten Mehrzweck-Kampfjet F-35. Ähnlich düster sieht es bei den taktischen Atomwaffen aus: Die Russen hätten nicht weniger als elf Systeme im Arsenal, während die Amerikaner lediglich über eine Fliegerbombe verfügten - die auch in Deutschland stationierte B61, die derzeit umfassend modernisiert wird.

Weltuntergangsmaschine unter Wasser

Die USA, heißt es im NPR, müssten sich deshalb dringend neue, kleinere Atomwaffen zulegen - schon um eine passende Antwort auf einen möglichen russischen Erstschlag parat zu haben. Allerdings scheint auch auf russischer Seite mancher einen Angriff der USA zu fürchten, denn anders ist die Entwicklung einer Waffe wie des "Status-6"-Torpedos kaum erklärbar: Falls sie überhaupt real ist, handelt sich ganz offensichtlich um eine Vergeltungswaffe für ein Szenario, in dem Russland selbst nicht mehr viel zu verlieren hat.

"Auf die Gefahr hin, zu untertreiben: Dieses Projekt ist völlig durchgeknallt", schrieb der US-Atomwaffenexperte Jeffrey Lewis nach dem TV-Leak Ende 2015. Er fühlte sich an "die absurdesten Momente des Kalten Kriegs" erinnert. Tatsächlich hat der Weltuntergangs-Torpedo gewisse Ähnlichkeit mit jener Weltuntergangsmaschine, welche die Sowjets in der Endphase des Kalten Kriegs aufgebaut haben. Das "Perimeter"-System, auch als "Tote Hand" bekannt, sollte die sowjetischen Atomwaffen nach einem amerikanischen Überraschungsangriff automatisch abfeuern - damit man den Gegner auch dann noch einäschern kann, wenn man selbst schon längst tot ist.

Dass der "Status-6"-Torpedo einer ähnlichen Logik folgt, wird an einem Detail in der US-Nukleardoktrin erkennbar. Sie bezeichnet die Waffe nicht etwa als ferngesteuert oder automatisch, sondern als "autonom". Das würde strenggenommen bedeuten, dass der Torpedo, einmal gestartet, seine Mission ohne weiteres menschliches Zutun beenden würde.

Immerhin: Das Problem mit der Funkfernsteuerung unter Wasser wäre dann erledigt.


Zusammengefasst: In der Vergangenheit war immer wieder von einem russischen Atom-Torpedo die Rede, der in der Lage sein soll, ganze Küstengebiete radioaktiv zu verseuchen. Bisher gab es kaum mehr als Gerüchte - doch jetzt taucht die angeblich autonome Waffe in der Nukleardoktrin der US-Regierung auf. Damit scheint die Existenz des Projekts bestätigt.