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Wettbewerb Margrethe Vestager: Europas Google-Schreck

EU-Kommissarin Margrethe Vestager
EU-Kommissarin Margrethe Vestager
© Charlotte de la Fuente
Seit Donnerstag ist Apple das erste Billion-Dollar-Unternehmen der Welt. Nur wenige können Tech-Giganten wie Apple oder Google ärgern oder aufhalten. Eine dieser wenigen ist EU-Wettbewerbs-Kommissarin Margrethe Vestager

Die Frau, die Weltkonzerne das Fürchten lehrt, hat ein Schuhproblem. In grauen Pumps stakst Margrethe Vestager die Treppe hinab zur wartenden Limousine, einmal knickt die EU-Kommissarin für Wettbewerb beinahe um auf ihren Absätzen. Ihr Auftritt bei einem Pensionsfonds in Kopenhagen ist vorbei, gleich sitzt sie im Auto, dann kann sie die unbequemen Dinger ablegen und das flachere Zweitpaar anziehen. Bevor sich die 49-Jährige für den nächsten Termin wieder in die Pumps quälen wird.

Es ist Oktober, Vestager tourt durch die Stadt, in der ihre Politikkarriere begann. Ihr Programm ist durchgetaktet von früh bis spät: Reden vor dem Parlament und der dänischen Wirtschaftselite, Essen mit Politikern, Managern, Honoratioren, ein Medienbriefing, Interviews, Fotoshootings, zwei Diskussionsveranstaltungen mit Normalbürgern.

Derlei Heimatbesuche macht Vestager alle paar Wochen. Öfter als die meisten Brüsseler Kollegen. Das sei nötig, sagt sie im Gespräch mit Capital. „Die europäische Demokratie ist viel weiter entfernt von den Menschen als die nationale oder lokale Demokratie.“ Also reist sie hin zu den Menschen. Die empfangen sie freundlich. Ob in Kopenhagen, Paris oder Berlin: Wo immer sie auftritt, bekommt sie Beifall. Kaum ein EU-Kommissar ist so bekannt wie sie. Und keiner so beliebt. Vestager ist die erste Eurokratin, die das Zeug zur Volksheldin hat. Denn die hochgewachsene Dänin mit der Kurzhaarfrisur bietet den mächtigsten Konzernen der Erde die Stirn. Apple und Google, Daimler, Lufthansa und Gazprom – je größer der Gegner, desto fetter die Schlagzeilen.

Starbucks, Amazon, Gazprom: Gegner sind die Großen

Ist die populärste Politikerin der EU eine Populistin? Dieser Eindruck entsteht bisweilen, wenn sich die Kameras und Mikrofone auf Vestager richten. Weil sie gerade Google zu einer Rekordstrafe von 4,3 Mrd. Euro verdonnert hat, weil sie Amazon in die Mangel nimmt oder ankündigt, das „Dieselkartell“ deutscher Autokonzerne zu untersuchen. Oder weil sie Irland zwingt, 13 Mrd. Euro Steuern von Apple nachzufordern.

Vestager auf dem Weg zum nächsten Termin
Vestager auf dem Weg zum nächsten Termin (Foto: Charlotte de la Fuente)

Letzteres ist formal gar nicht ihr Gebiet, Vestager soll den Wettbewerb überwachen. Ihr Leib- und Magenthema sind trotzdem die Steuersparmodelle, die EU-Mitgliedstaaten multinationalen Konzernen offerieren. Eines nach dem anderen haben Vestager und ihre Generaldirektion Wettbewerb sich vorgeknöpft. Los ging es 2015 mit Starbucks (Niederlande) und FiatChrysler (Luxemburg), es folgten der Biermulti Anheuser-Busch InBev (Belgien) und schließlich Apple (Irland). Alle Fälle liefen ähnlich ab. Vestager erklärte die Steuervorteile für unvereinbar mit EU-Recht und forderte die Staaten auf, das entgangene Geld einzutreiben. Gerade knöpft sie sich wieder Luxemburg vor, sie verlangt, der Staat müsse von Amazon 250 Mio. Euro plus Zinsen nachträglich kassieren.

Doch ihr spektakulärster Fall bleibt Apple. Vestager wirft dem iPhone-Hersteller vor, 2014 auf seine in Europa erzielten und in Irland gebündelten Gewinne nur 0,005 Prozent Steuern gezahlt zu haben, dem Fiskus seien 13 Mrd. Euro entgangen. Das hat ihr einen besonders mächtigen und zornigen Gegner eingebracht: Tim Cook. Wie kolportiert wird, soll der Konzernchef bei einem Treffen in Vestagers Büro die Fassung verloren haben. Ihr Entscheid habe weder rechtliche noch faktische Grundlagen, wütete er später: „Das ist totaler politischer Mist.“

Cook hat einen Punkt. So fragwürdig die Steuersparmodelle sein mögen – was gehen sie eine Wettbewerbskommissarin an? Als Vestager die Frage hört, faltet sie die Hände, überlegt einen Moment. „Für ein Unternehmen sind Steuern Kosten“, sagt sie schließlich. Sie habe nichts gegen Ermäßigungen für alle. „Aber wenn ein bestimmtes Unternehmen mit selektiven Vergünstigungen seine Kosten minimieren kann und andere Unternehmen die vollen Steuern zahlen müssen, dann gibt es keinen gleichen Wettbewerb.“

Vorbild für eine Serienfigur

Es ist Mittag, Vestager sitzt im dänischen Parlament, wo sie gleich reden soll. Hier hat sie unzählige Stunden verbracht. Sie ist Berufspolitikerin seit fast drei Jahrzehnten. Schon mit 21 wurde sie ins Führungskomitee der Radikale Venstre berufen, der Radikalen Linken, die trotz ihres Namens eine sozialliberale Partei der Mitte ist. Damals studierte Vestager Ökonomie. In der Wirtschaft hat sie nie gearbeitet, stattdessen in der Ministerialbürokratie, der Partei, im Parlament.

Mit 29 wurde sie Ministerin für Bildung und Kirchen. Sie war die erste, die im Amt schwanger wurde. Mittlerweile hat sie drei Kinder, ihr Mann Thomas ist Lehrer. „Eiskönigin“ nannte man sie einst, weil sie als kompromisslos galt. Vestager war das Vorbild für die Filmfigur Birgitte Nyborg, Protagonistin der Polit-Serie „Borgen“, dem dänischen „House of Cards“. Die Schauspielerin Sidse Babett Knudsen begleitete die Politikerin tagelang, um von Vestager zu lernen, wie das Geschäft läuft.

Ein Paar flache Schuhe hat Vestager immer dabei
Flache Schuhe hat Vestager immer dabei (Foto: Charlotte de la Fuente)

Als ihre Koalitionspartnerin Helle Thorning-Schmidt Ministerpräsidentin wurde, machte sie Vestager zur Superministerin für Wirtschaft und Inneres. Drei Jahre lang leiteten die beiden Frauen gemeinsam die Regierung. Die Zügel habe Vestager in der Hand gehabt, sagen Kopenhagener Insider. Das Duett endete, als sie 2014 nach Brüssel wechselte – und dort voll durchstartete.

„Ich will den Bürgern zeigen, dass Europa etwas für sie tut“, sagt Vestager. „Die Unternehmen, für die sie arbeiten oder die ihnen gehören, sollen eine faire Chance im Markt haben – egal wie groß sie sind.“ Die Bürger dürften nicht das Gefühl bekommen, dass sie regulär Steuern zahlen, während die großen Konzerne verschont bleiben. „Sie müssen sehen, dass wir uns für eine fairere Gesellschaft einsetzen. Sonst wird Europa keine Zustimmung bekommen.“ Das sieht auch ihr Chef so: Jean-Claude Juncker, unter dessen Ägide Luxemburg fragwürdige Steuermodelle aufsetzte, hat Vestager freie Hand zum Aufräumen gegeben.

Der Google-Chef musste warten

Sie behandle alle Menschen gleich, sagt sie. Die Mächtigen der Weltwirtschaft bekommen das zu spüren. Den damaligen Google-Chef Eric Schmidt ließ Vestager monatelang um einen Termin anstehen. Mit Konzernlobbyisten redet sie nach eigenen Angaben eh nicht. Als die Führungsriege des russischen Multis Gazprom bei ihr antanzte, sagte sie, so viele Leute hätten in ihrem Büro keinen Platz. Drei Viertel der Delegation mussten im Korridor warten.

Es dürfte kein Zufall sein, dass solche Begebenheiten immer wieder an die Öffentlichkeit durchsickern. Sie haben der Kommissarin jenes furchtlose, entschlossene Image eingebracht, das sie bei Auftritten gezielt bestärkt. „Niemand darf über dem Gesetz stehen“, ruft sie bei einer Podiumsdiskussion im Foyer des Kopenhagener Schauspielhauses. „Diese Steuerdeals sind nicht in Ordnung. Wir arbeiten daran, dass sich das ändert.“ Die Zuhörer nicken.

Vestager ist fast 1,80 Meter groß. Hat sie ihre Pumps an, blickt sie auf viele Männer herab. Breitet sie beim Diskutieren dann noch die Arme aus, wirkt es, als könne ihr niemand etwas anhaben. Doch sie kann auch anders. Stellt ihr jemand eine Frage, hört sie sehr genau zu, schaut die Menschen an, lässt sie ausreden.

In ihren Anfangsjahren galt sie als akademische, etwas volksferne Politikerin. Heute versuche sie, komplexe Themen in einfache Worte zu fassen, sagt Vestager.

Hilfe beim Outfit vor einer Diskussion in Kopenhagen
Hilfe beim Outfit vor einer Diskussion in Kopenhagen (Foto: Charlotte de la Fuente)
© Charlotte de la Fuente

Damit hat sie viele Fans gewonnen. „Extrem freundlich, präzise, unprätentiös, im besten Sinne skandinavisch“, so charakterisiert sie Sven Giegold, der finanz- und wirtschaftspolitische Sprecher der Grünen im Europaparlament. „Und anders als manche Vorgänger bremst sie ihre Leute nicht aus, sondern motiviert sie.“

Manchen Steuerfall hatte die Brüsseler Wettbewerbsbehörde schon vor Vestager in Angriff genommen. Doch die neue Kommissarin habe dieser Politik ein Gesicht gegeben, sagt Giegold. „Umso wichtiger ist es aber, nicht nur Verfahren gegen die ganz großen Konzerne einzuleiten, sondern auch gegen alle anderen Unternehmen, die von den Deals profitieren.“

Die Gerichte spielen nicht immer mit

Megafälle wie Apple oder Google könnten sich über Jahre ziehen. Die Multis wehren sich gegen die Beschlüsse aus Brüssel. Am Ende werden wohl Gerichte entscheiden, und deren Plazet ist alles andere als sicher. Erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof ein Verfahren der EU-Kommission von 2009 gegen den Chiphersteller Intel neu aufgerollt . Vestagers Vorgänger hatte eine Strafe von 1,06 Mrd. Euro verhängt. Acht Jahre später aber urteilten die Richter gegen Brüssel. Womöglich muss Intel doch nicht zahlen.

Was, wenn Vestagers Verfahren in den 2020er-Jahren platzen? Wenn die Richter den Kritikern zustimmen, die sagen, dass die Kommissarin ihre Kompetenzen überschreitet? „Wir haben alle unsere Fälle gut vorbereitet“, antwortet Vestager. Und fügt hinzu, dass sie die Verantwortung trage. „Wenn wir verlieren, werde ich es sein, die verliert.“ Allerdings wird sie selbst dann wohl nicht mehr Wettbewerbskommissarin sein. Umgehen müsste mit den Konsequenzen ihr Nachfolger.

Doch zurzeit ist das noch kein Thema, schon gar nicht für ihr Publikum in Kopenhagen. Freitagabend, kurz nach sechs, das letzte Podium endet, wieder erntet Vestager warmen Applaus. Acht, neun Zuhörer kommen danach auf sie zu, wollen Hände schütteln, Selfies machen, reden. Bereitwillig lässt sich die Kommissarin in eine Diskussion verwickeln. Nach 20 Minuten ist der letzte Fragesteller fertig. Vestager bekommt von einer Assistentin ihre Handtasche gereicht und macht sich auf in Richtung Limousine. Gleich ist sie die Pumps endlich los.

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