Zum Inhalt springen
Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Die Telekom erdrosselt das Internet

Die Telekom will DSL-Flatrates abschaffen. Sie sollen durch Datenkontingente ersetzt werden, wie sie im Mobilfunk üblich sind. Wer mehr verbraucht, muss mehr zahlen oder im Schneckentempo durchs Netz schleichen. Das ist der Anfang vom Ende der Netzneutralität - wenn niemand einschreitet.

Die heimische Drossel ist für ihren schönen Gesang bekannt. Weniger bekannt ist, dass Drosseln eine ganz besondere Lieblingsspeise haben: Schnecken. Während in der Natur also die Drossel Schnecken reduziert, ist es in der Technik exakt umgekehrt: dort stellt die Drossel Schnecken her. Und das ist nichts weniger als eine Crescendokatastrophe, ein Umstand also, der sich mit fortschreitender Zeit verschlimmert.

Jetzt hat die Telekom bekanntgegeben , dass bei allen zukünftigen Festnetzverträgen der Internetanschluss ab einem bestimmten, verbrauchten Datenvolumen per Drossel zur Schnecke werden soll: Dann wird auf 384 Kilobit pro Sekunde gedrosselt. Also eine Geschwindigkeit, die dem Nutzer den Download eines handelsüblichen Films in DVD-Qualität in kaum mehr als 23 Stunden ermöglichen würde. Streaming, oft als digitale Zukunft der Unterhaltungsindustrie angesehen, ist mit dieser Geschwindigkeit selbstredend auch möglich. Wenn der Nutzer bereit ist, den gestreamten Film in ungefähr einem Zwölftel der Originalgeschwindigkeit anzuschauen. Außer es handelt sich um Blu-ray-Qualität, dann würde ein Kinofilm in Höchstqualität effektiv in nur 280 Stunden (rund 13 Tage) heruntergestreamt werden können. Schneckengeschwindigkeit ist ein Euphemismus, die Drossel drosselt den Netzzugang nicht bloß - sie erdrosselt ihn.

Das gegenwärtige Verständnis des Begriffs Bandbreite ist bei den meisten Leuten ein eher technisches, man hat halt einen langsameren oder schnelleren Netzanschluss als die Bekannte drei Straßen weiter. Ebay geht trotzdem, YouTube ruckelt zwar etwas, aber das ist man ja ohnehin gewohnt, und die Lieder, die die Kinder ansehen wollen, hat die Gema sowieso blockiert. Warum also die Aufregung? Das liegt daran, dass Bandbreite das Internet ist, und das Internet ist Bandbreite. Wer bei Datenübertragung nur an Tauschbörsenhehlerei denkt, ist entweder Lobbyist oder verdient ein Ungenügend in Netzkunde. Denn spätestens mit der Cloud werden alle möglichen und auch ein paar unmögliche Anwendungen mit einem Mal bandbreitenbedürftig. Das liegt nahe bei Streaming-Plattformen wie Spotify: eben war Musik noch eine Frage der Festplattengröße, jetzt schon hängt sie direkt von der Bandbreite ab.

Aber auch etwas aus Laiensicht Unvernetztes wie die Spracheingabe verlangt Bandbreite. Denn jedes gesprochene Wort bei Siri oder dem Google-Pendant wird aufgezeichnet, als Datenpaket versendet und auf Servern abgeglichen. Nur so konnten die großen Fortschritte bei der Spracherkennung erreicht werden. Und der Bandbreitenbedarf wird noch zunehmen. Nicht nur, weil die bewegte Datenmenge der meisten Dienste und Seiten im Netz größer wird, sondern vor allem, weil Datenaustausch das Urprinzip des Internet ist: Das Netz zieht seine Kraft aus der verteilten Datenverarbeitung. Deshalb entspricht die Bandbreitenbegrenzung einer weitgehenden Abschaltung des Netzzugangs, der Abkopplung von ungefähr allem außer E-Mail und ein wenig Notpornographie. Als bekäme man elektrischen Strom ins Haus, aber nach soundsoviel Kilowatt Verbrauch lassen sich nur noch Kleingeräte betreiben. Waschmaschine, Kühlschrank und Elektroherd müssen ausbleiben.

Die Telekom verkauft ab Mai 2013 kastriertes Internet

Die Telekom verkauft ab Mai 2013 kastriertes Internet. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine neue Kundenzumutung in einem nicht eben zumutungsarmen Bereich. Sondern um ein Großpolitikum der digitalen Infrastruktur, ein Menetekel der Netzgesellschaft, ein Angriff auf das Internet selbst. Denn die Telekom verabschiedet sich - auch, wenn sie das vermutlich mit wolkigen Definitionsumdeutungen bestreiten würde - mit der Drosselung en passant vom Prinzip der Netzneutralität. Eigene Dienste wie "Entertain" (das Streaming-Angebot der Telekom) zählen nicht zum Datenvolumen und sind von der Drosselung ausgenommen.

Die Netzneutralität aber ist die Grundvoraussetzung für ein freies, offenes und sicheres Internet. Netzneutralität bedeutet, die im Netz fließenden Daten so gleich wie technisch sinnvoll zu behandeln. Fängt ein Netzbetreiber damit an, die Daten je nach Absender und Adressat zu unterscheiden - dann droht das freie, offene Internet selbst zum Markt zu werden, und zwar an der gefährlichsten Stelle überhaupt: dem Informationsaustausch. Allein das Prinzip der Netzneutralität garantiert, dass ein Internetanschluss ausreicht, um alle Daten im Netz ansteuern zu können. Die Abschaffung dieses Prinzips würde über kurz oder lang dazu führen, dass man nicht nur einen Netzzugang kaufen muss - sondern dazu auch für Facebook, YouTube oder eine Blogplattform extra bezahlen muss.

Die Abschaffung der Netzneutralität entspricht einer wirtschaftlichen Form der Zensur. Deshalb hat eine breite Front von über 80 Bürgerrechtsgruppen Mitte April dringend vor einer Erosion der Netzneutralität gewarnt. Völlig abgesehen von den superschlimmen, wenn nicht sogar hyperschlimmen Folgen für die Digitalwirtschaft: Google könnte jeden noch so datenintensiven Dienst auf den Markt werfen, dagegen hätte auch das cleverste Start-up keine Chance, weil es circa ab dem vierten Nutzer am eigenen Erfolg zu Grunde ginge.

Es rächt sich, dass die Bundesregierung im Digitalen nicht handelt

Jetzt rächt sich bitter, dass die Bundesregierung das Internet als politische Verhandlungsmasse betrachtet und nicht als gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Zukunft. Es rächt sich, dass die Bundesregierung im Digitalen nicht handelt, sondern sich von ausgewählten Lobbyisten treiben lässt. Dabei tun die Telekommunikationsunternehmen nur, was wirtschaftlich nahezuliegen scheint: ohne forcierende Hilfe der Politik werden sie niemals die ungeheuren, aber notwendigen Investitionen für die digitale Infrastruktur aufbringen können. Und doch wäre es falsch, allein die böse Politik und die grundsätzlich natürlich noch viel bitterbösere Lobby zu beschuldigen. Denn dieses Spiel wird so weit getrieben, wie es der Wähler erlaubt. In den Niederlanden etwa wurde die Nichtkastration des Internet gesetzlich festgeschrieben.

In Deutschland hat sich der Wähler immer wieder für Parteien entschieden, die weder Netzgrundversorgung noch Netzneutralität für relevant halten. Angenommen, eine Volkspartei würde fordern, die 80 Milliarden Euro für die bundesweite Glasfaserverkabelung müsste durch eine Sonderabgabe finanziert werden. Die meisten Wähler würden in ihren Heimwerker- oder Römertopf-Foren randalieren oder gleich einen steuervermeidenden Hoeneß-Übersteiger androhen. Im Land, dessen großer Buchbestseller 2012 "Digitale Demenz" hieß, fehlt schmerzhaft das Klima pro Vernetzung, um eine geistig-moralische Netzwende hinzulegen. Das Internet findet der Durchschnittsbürger schon auch weitgehend sinnvoll, irgendwie. Aber hier leben? Nein danke.

Mit ihrem Schnabel lässt sich ein Schneckenhaus kaum aufknacken. Um ihre Leibspeise trotzdem essen zu können, sucht sich die Drossel mit ihrer Beute eine sogenannte Drosselschmiede. Dabei handelt es sich um einen geeignet geformten Stein, auf den sich die Drossel setzt und das Schneckenhaus solange draufschlägt, bis der Panzer aufsplittert. Dann bedient sich der Vogel vom warmen, weichen Schneckeninnern. Die Beziehung zwischen Drossel und Schnecke verläuft für eine Seite tendenziell ungünstig. In der Natur wie in der Technik.

tl;dr

Das Ende der Netzneutralität müsste politisch gestoppt werden, aber dazu müsste sie dem Souverän mehr bedeuten. Müsste, müsste, Bismarckbüste.

Anmerkung: Der Autor hat vor vier Jahren für ein paar Monate bezahlt Werbung für einen Telekom-Konkurrenten gemacht, dieser Text ist davon jedoch unbeeinflusst. Im Gegenteil, die Firma Vodafone würde nach Einschätzung des Autors exakt genauso handeln, wenn sie Kalif wäre anstelle des Kalifen. Wahrscheinlich tut sie es der Telekom ohnehin bald nach. Derzeit lässt sich bis auf wenige Ausnahmen nur zwischen zwei Providergruppen unterscheiden: die, die Netzneutralität abschaffen wollen und die, die noch nicht zugeben, die Netzneutralität abschaffen zu wollen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.